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Gehirn - Geist / Artikel Kittel / Determiniertheit zu hirnigen K.
 

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"Determiniert zu hirnigen Konstruktionen"
 Stellungnahme zu Gerhard Roth "Das Problem der Willensfreiheit"

 

von Ingo-Wolf Kittel   

Ich bin mir nicht sicher, wie der zwischen Bericht und Argumentation changierende Beitrag von Herrn Roth aufzufassen ist! Er müsste nämlich nach den von ihm verfochtenen Thesen ein willenlos Getriebener sein, der durch seine cerebralen Verschaltungen deterministisch darauf festgelegt ist, seine hirnigen Konstruktionen zu verfechten oder vielmehr die Konstruktionen seines Gehirnes auf geeignete Reize hin zu äußern, wie nach den unter seinem Namen erschienenen Büchern formuliert werden müsste, nach denen er sogar selbst nur ein Konstrukt seines Gehirns sein soll...

Schon in dieser Hinsicht sieht der Beitrag von Herrn Roth nach einem jener zahllosen Beispiele für die Art des Denkens unter Neurowissenschaftlern aus, die für seinen australischen Kollegen, den in Sydney forschenden Neurophysiologen Max R. Bennett Anlass waren, in Zusammenarbeit mit Peter M. S. Hacker die begrifflichen und methodologischen Voraussetzungen neurowissenschaftlicher Theoriebildung ebenso eingehend wie detailliert einer historischen und systematischen sowie begriffsanalytischen und argumentationslogischen Untersuchung zu unterziehen.1

Auch die gleich zu Anfang explizierte zentrale These von Herrn Roth, "die 'starke' Annahme der Existenz von Willensfreiheit [..], nämlich [..] die Annahme der freien Entscheidungsmöglichkeit zwischen Alternativen" sei inkompatibel mit "deterministisch ablaufenden Naturprozessen" scheint von gleicher Fragwürdigkeit zu sein (einschließlich der Bezüge, die er dabei herstellt, zumindest der zur 'Alltagspsychologie'): als sei 'wollen', wozu man sich entschieden hat, und 'entscheiden' dasselbe, während der Ausdruck "freie Entscheidungsmöglichkeit" Anlass gibt, sogar eine ganze Reihe von Fragen zu stellen. Nur wenn man so frei ist und sich die Freiheit nimmt, just die negierte 'freie Möglichkeit' zu nutzen und sich zu entscheiden, ihn nicht wörtlich und damit 'nicht so genau' zu nehmen, wird man annehmen können, der umgangssprachlichen Redeweise entsprechend sei von Roth eigentlich gemeint, dass - wissenschaftsmethodisch ausgedrückt - deterministisch hinreichend beschreibbare Geschehnisse in der Welt die Möglichkeit ausschließen, sich frei entscheiden zu können.

Nur fällt schwer einzusehen, warum das eine nicht neben dem anderen real soll vorkommen können, oder auch nur die bloße Annahme der (nur denkbaren!) 'Möglichkeit' von beidem inkompatibel sein soll. Beide Denkmöglichkeiten erscheinen erst in der Zuspitzung von Herrn Roth inkompatibel, weil sie auf diese Weise logisch miteinander unverträglich gemacht werden, die gleichzeitige 'Annahme' beider auf diese Weise unsinnig bzw. sinnlos wäre und vor allem zu widersprüchlichen Konsequenzen führte. ( Solche hätte allerdings schon die Vertretung einer der beiden extremistischen 'Standpunkte' allein.)

Noch verwunderlicher erscheint, dass es empirischer Befunde gerade der - entgegen der allgemeinen Überschätzung real noch in (größeren) Kinderschuhen steckenden - Hirnforschung bedürfen soll, um gegen die Annahme einer davon, noch dazu derjenigen, die in unserem Selbst- bzw. eigenen Erleben zentral ist, zu argumentieren! Denn zum Zwecke der Überzeugung zur (freiwilligen?) Annahme eines Determinismus, der Naturprozesse auszeichnen soll - wenn es sich hierbei nicht bloß um einen Vorschlag einer Prädikatorenregel handelt -, wäre der Mammutnachweis zu führen, dass faktisch alle bekannten realen Vorgänge deterministisch 'sind', und zudem zu beweisen, dass es auch keine anderen geben kann.

Bis zur Präsentation eines derartigen Doppelbeweises als Grundlage für einen argumentativ begründeten Vorschlag, (freiwillig?) anzunehmen, dass allem Geschehen ein durchgehender Determinismus zugrunde liege, sind m.W. in empirischen Wissenschaften bis hin zur Hirnforschung alle nicht von vornherein hirnrissigen Annahmen als Arbeitshypothesen legitim, und Aufgabe dieser Forschung ihre Tragfähigkeit und Reichweite aufzuweisen.

Widersprechen muss ich Herrn Roth jedoch in erster Linie hinsichtlich seiner Angabe, die 'Alltagspsychologie' enthalte die 'starke' Annahme der Existenz von Willensfreiheit. Aufgrund eigener, nach gründlichem Studium und nicht weniger eingehender Ausbildung in jahrzehntelanger psychotherapeutischer Detailarbeit in Zehntausenden von Einzelsitzungen mit Menschen aus allen Bildungsschichten erarbeiteter Kompetenz kann ich versichern, dass kein Mensch ohne besondere philosophisch oder theologische Vorbildung unter Willensfreiheit ein Konzept oder Konstrukt versteht, noch damit überhaupt eine 'Annahme' welcher Art auch immer verbindet.

Außerhalb akademischer Zusammenhänge wird meiner Kenntnis und gesamten Lebenserfahrung nach mit Willensfreiheit die Beliebigkeit gemeint, zu wollen, auf was man sich frei von Druck oder Zwang jeglicher Art und damit allein so, wie es einem selbst 'beliebt', auf etwas festgelegt hat - aus welcher Anzahl von Gegenständen oder Handlungsalternativen man auf 'willkürlich' genannte oder gedankenlose Weise einen bzw. eine davon herausgegriffen oder auf mehr oder weniger umsichtig-überlegte Weise eine (vielleicht sogar differenziert-abgewogene) Auswahl aus ihnen getroffen hat.

(Von diesem Sinn geht sogar die akademische Psychologie aus, solange dort keine Konzeptualisierungen anderer Provenienz bemüht werden: sich entscheiden ist als Selbstbestimmung immer frei von Druck aller Art - auch 'innerem' Druck wie etwa Zwangsimpulsen - konzipiert; sonst handelt es sich um Reaktionen auf äußere Reize oder innere Impulse. Nebenbei bemerkt, setzt psychologisch gesehen die Fähigkeit sich zu etwas zu entscheiden die Fähigkeit zu denken voraus; denn man muss zusätzlich zur momentanen Wahrnehmung - dem 'ersten Eindruck' - mit der evtl. Folge, auf der Grundlage der 'angeborenen' biophysisch präformierten Bedürfnisregulation innerlich einen reflexartigen Impuls zu spüren, auf bestimmte Weise zu reagieren, sich zu dieser weitere Reaktionsmöglichkeiten 'dazu denken', um überhaupt Handlungsalternativen zu haben, zwischen denen man wählen kann, selbst wenn man darauf bewusst verzichtet und entscheidet, dem ersten Impuls nachzugeben und zu 'folgen'.

Entscheiden ist überdies oft selbst eine, zumeist sogar komplexe gedankliche Tätigkeit, die nach unterschiedlichen Gesichtspunkten wie Wichtigkeit oder Relevanz und anderen Kriterien, dazu oft auch noch aufgrund von Einschätzungen einer Situation oder ihrer 'denkbaren' Entwicklung und vielleicht noch anderem vollzogen wird. Selbst die einfachste vorstellbare Wahlmöglichkeit, die darin besteht, etwas zu tun oder zu lassen, wozu sprachlich auch gesagt werden kann, es nicht zu tun, muss gedanklich antizipiert werden: etwas nicht tun kann überhaupt nur gedacht werden; denn 'in der Tat', u.d.h. unabhängig von der sprachlichen Darstellung dieses Tuns tut man real dann schlicht etwas anderes als das, was man vielleicht auf den ersten Impuls hin getan hätte.)

Noch eigenwilliger erscheint die Psychologie, der Herr Roth möglicherweise anhängt. So könnten für ihn Gefühle und Überzeugungen evtl. dasselbe sein, wenn er wiederholt schreibt, "wir(!) haben das Gefühl bzw. die Überzeugung"... - z.B. "bei unserem Wollen frei zu sein". Unabhängig von dieser sprachlichen Unklarheit ist die Frage, warum er glaubt berechtigt zu sein, von einigen vielleicht eigenen Wahrnehmungen und Überzeugungen zu behaupten, 'wir' hätten sie alle. Ich selbst teile 'unsere' Überzeugung, die eigentlich seine ist, nicht, und zwar schon deswegen nicht, weil ich nicht 'frei will'. Wie alle, die ich aus meiner Alltagserfahrung kenne, 'will' ich einfach, was immer das jeweils ist. (Das gilt sogar noch, wenn man mit 'wollen' der umgangssprachlichen Vieldeutigkeit der Verwendung dieses Verbs entsprechend nur sagen will, man 'wünsche' sich etwas, also einen Wunsch ausdrücken will!)

Außerdem habe jedenfalls ich von meinen Entscheidungen keineswegs bloß einen vagen 'Eindruck', wie die von Roth bemühte Wendung wir "haben das Gefühl" realiter besagt (ich ziehe durchaus in Betracht, dass er etwas anderes ausdrücken wollen könnte, vermute aber aufs erste, dass er diese umgangssprachliche Ausdrucksweise aus einem ganz anderem Grund verwendet, und zwar zur rhetorisch vorlaufenden Abwertung des von ihm nur als 'Überzeugung' in Betracht gezogenen konkreten Erlebens, in seinem Denken, Überlegen, Entscheiden und Wollen in vielerlei Hinsicht eigenartig 'frei' zu sein, von dem er jedoch will, dass der Leser seiner Ausführungen es als Illusion ansehen soll.).

Ich nehme - wie sehr viele andere, die ich kenne, dies auch tun - meine Tätigkeit, mich für etwas zu entscheiden, während ihres Vollzugs sehr konkret wahr; nur deswegen kann ich sie überhaupt gezielt und selbstbestimmt ausführen und dabei auch noch 'kontrollieren'. Überdies erinnere ich mich gerade deswegen, weil ich sie aufmerksam und so umsichtig wie möglich gestalte, auch danach noch ihrer sowie meist auch vieler, wenn nicht aller, dann doch möglichst aller wichtigen Einzelheiten davon und weiß darum auch noch später um sie! Und wenn es sich um eine sog. langfristige Entscheidung handelt, insbesondere um eine, mit der ich mich willentlich und absichtlich auf eine längere oder sogar auf nicht absehbare Dauer auf etwas festlege wie etwa auf Grundsätze, Regeln und Prinzipien oder auf Verabredungen oder 'Verpflichtungen' jedweder Art bleibe ich mir bei der Umsetzung meiner Entscheidung zudem die ganze Zeit bewusst, dass, wie, wofür, weswegen, im Hinblick worauf und wozu ich mich dazu entschieden hatte - welche Umstände und sonstige Gegebenheiten auch immer ich dabei berücksichtigt oder außen vor gelassen, vielleicht auch übersehen oder mangels Wissens darum nicht in Betracht gezogen habe.

(Damit wären alle Aspekte eines gewollten Handelns durchaus noch nicht vollständig beschrieben; denn dabei müsste z.B. auch noch die Ausrichtung dieses Handelns auf das wiedergegeben werden, was damit jeweils angestrebt wird wie Zwecke und ggf. auch weiter gesteckte Ziele, oder die Verwirklichung von Absichten, die dabei 'verfolgt' werden, bis hin zu komplexeren Vorhaben wie Plänen, die 'in die Tat umgesetzt' werden sollen. - Nebenbei sei darauf hingewiesen, dass Herr Roth die reifizierende Redeweise von psychischen Leistungen in der eher nachteiligen Version alltagspsychologischen Denkens mitmacht und ohne erkennbare Berücksichtigung des Bezugs dieser Ausdrucksweise zu ihrer realen Grundlage in der für die 'Psychoanalyse' und sonstiges psychotherapeutischen Arbeitens typischen Praxis, aber leider vielfachen literarischen Vorbildern entsprechend aus 'unbewusst' das Unbewusste macht, das er sich zudem offenbar wie einen Ort oder Behälter vorstellt, aus dem etwas "aufsteigt", und dann z.B. in Stirnhirnhöhe, wie er z.B. schreibt, "bewusst wird" - ein Ausdruck wiederum, der jedoch '[be]merken' oder 'auffallen' bedeutet, und mit dem ein Wahrnehmungsvorgang gemeint ist, mit dem das Stirnhirn wohl eher selten und dann nicht direkt in Verbindung gebracht wird; es ist allerdings auch möglich, dass er 'eigentlich' eine Aufmerksamkeitsleistung meint, bei der die zu berücksichtigenden Verhältnisse relativ komplex sind und vor allem in einem Zusammenhang stehen, der hier unerheblich ist.)

Als Psychotherapeut weiß ich außerdem besonders gründlich darum, dass die Fähigkeit zu bewusstem Entscheiden und Wollen wie das Sprechen in einer Sprache auf elementaren, zuvor bzw. zuerst vorhandenen (primären oder 'primitiven') Fähigkeiten - dort zum Lauteerzeugen, hier zum Erinnern - 'aufbaut' oder ruht. Um realistische Entscheidungen treffen zu können, muss die persönliche Erinnerungsfähigkeit allerdings soweit entwickelt sein, dass man fähig ist, sich nicht bloß zufällig, sondern gezielt, also absichtlich etwas einmal Erlebtes 'vorzustellen', und einzelne Erinnerungs- bzw. Vorstellungselemente nicht bloß assoziativ zu kombinieren, sondern dieses Kombinieren auch willentlich an anderen, insbesondere 'sinnvollen' Gesichtspunkten oder Regeln und Gesetzen z.B. denen der Logik auszurichten vermag. Dazu muss einem die Möglichkeit, Erinnerungen nicht nur passiv 'einfallend' oder 'ablaufend' zu erleben wie nachts in Träumen, sondern sie selbst manipulieren zu können, 'natürlich' erst einmal auffallen, d.h. man muss sie selbst entdecken und 'wahrnehmen', auch wenn man von anderen darauf hingewiesen wird, die darum schon wissen. Erst im Wissen darum kann dann 'bewusst' im Doppelsinn des Wortes von 'wissend' und 'absichtlich' geübt bzw. gelernt werden, die Möglichkeiten zu dieser spezifischen, nur aus Tradition 'geistig' genannten ('inneren') Selbstmanipulation in allen wiederum ihrerseits möglichen Variationen gezielt auszuprobieren und nach und nach zur 'hohen Kunst' umsichtigen selbstbestimmten, selbstgesteuerten und selbstkontrollierten Denkens zu entwickeln. Wohl abgewogenes 'vernünftiges' (vernehmendes!) Entscheiden, bei dem alle jeweils für relevant gehaltenen Umstände berücksichtigt werden, ist also als differenzierte eigenständige Denkleistung eine 'hoch entwickelte' Kulturleistung wie das Sprechen in einer Sprache, auch wenn sie bis in die feinsten und komplexesten Ausformungen oder 'Formen' biologisch lediglich auf spontan entwickelten oder selbst herbeigeführten, bei hinreichender Einübung auch mehr oder weniger 'eingefahren' oder gewohnheitsmäßig, oder aber gezielt und 'bewusst' vorgenommenen, also willenlichen Kombinationen oder Umorganisationen von Erinnerungs- und sonstigen Vorstellungselementen aller Art beruht - wie man statt 'Denken' (im allgemeinsten, also nicht nur 'logischen' Sinn) auch sagen könnte.

Wie es Sprachen gibt, obwohl m. W. bisher noch keine (einzige) im Gehirn gefunden wurde, so gibt es aller Erfahrung nach auch die Möglichkeit und sogar die Fähigkeit, auf der Grundlage von ausgedachten oder 'in einer Situation als momentan gegeben erkannten' Wahlmöglichkeiten Entscheidungen zu treffen, auch wenn davon soviel in Depolarisationsmustern von cerebralen Neuronenkohorten zu findet ist wie etwa von Längen- und Breitengraden oder Staatsgrenzen im Wasser oder auf der Erde - ob diese nun von jemandem willkürlich bestimmt oder aber aufgrund gemeinsamer Vereinbarung festgelegt wurden, ohne deswegen die Möglichkeit aus der Welt zu schaffen, sie auch wieder zu ändern, oder gar die Fähigkeit aufzugeben, dies ggf. auch zu tun...

Eine empirisch zu entscheidende Frage ist selbstverständlich, ob jemand sich im konkreten Fall einer Entscheidung darüber im Klaren war oder ist, also gewusst bzw. daran gedacht hat oder weiß bzw. daran denkt, welche 'Möglichkeiten' er hatte bzw. hat, zwischen denen er gewählt bzw. zu wählen und seine Entscheidung getroffen oder zu treffen hat. Die methodische Frage ist dann, welche Verfahren zum Zweck der Klärung und Überprüfung der Forschung hierfür zur Verfügung stehen.

Philosophische Reflexionen oder gar Konzepte kommen zum Aufweis realer Gegebenheiten in konkreten Entscheidungssituationen ersichtlich nicht in Betracht. Ob selbst mit den technisch bislang aufwendigsten Registrierinstrumenten in der Hirnforschung erhobene Daten, aus denen nach einem Vergleich in dem kürzlich publizierten MANIFEST von elf "bedeutenden Neurobiologen [und] führenden Neurowissenschaftlern"2 gerade mal so viel oder besser gesagt so wenig abgeleitet werden kann wie aus dem Stromverbrauch eines Computers über dessen Funktionieren, dafür faktisch oder wenigstens prinzipiell geeignet sind, ist m.W. bisher nicht einmal plausibel gemacht, geschweige denn praktisch demonstriert worden. Die methodologische Frage nach der Validität evtl. dafür in Frage kommender Verfahren stellt sich mangels solcher erst gar nicht, genauso wenig wie die nach deren evtl. Praktikabilität. Damit stehen weiterhin real nur die traditionellen Mittel der gezielten psychologischen Exploration und der disziplinierten Selbstreflexion zur Bestimmung der Einzelheiten einer Entscheidung zur Verfügung. Wer diese Mittel nicht beherrscht oder methodisch unberücksichtigt lässt, wird die realen Verhältnisse bei Entscheidungsprozessen und Willenshandlungen methodologisch und konzeptionell kaum realistisch erfassen und noch weniger wissenschaftlich zuverlässig erforschen können.

Differenzierte Ausgangsüberlegungen dieser Art erspart sich der Autor. Eine realitätsgerechte Konzeptualisierung dessen, was zunächst 'jedermann' erst einmal - und in diesem Sinn 'alltagspsychologisch' - mit dem Begriff 'Willensfreiheit' tatsächlich meint, ist in seinem 'Bericht' nicht zu erkennen. Es bleibt unklar, ob die Experimente, deren Deutung bis heute umstritten sind, das getestet haben, was sie testen sollten bzw. ob sie ihrer Anlange nach dazu überhaupt geeignet waren. (Sie müssten z.B. zuverlässig zwischen Impuls-, Willkür- und Willenshandlungen zu differenzieren gestatten; zudem ist bei ihrer Interpretation m.W. bisher kaum schon einmal außer indirekt von Libet selbst in Betracht gezogen worden, ob nicht das vielbemühte muskuläre Bereitschaftspotential das reflektorisch zustande kommende physiologische Äquivalent von noch nicht ausgeführten Bewegungen sein könnte, deren Ausführung jedoch - ähnlich der willentlichen Muskelanspannung auf das Kommando 'Fertig!' beim Start zu einem Sprint - nötig sind, wenn man etwas bestimmtes zu tun oder zu erreichen gewillt ist wie etwa einen 100-Meter-Lauf zu gewinnen.) Trotzdem führt Roth gegen die Annahme der Existenz von Willensfreiheit in einer Auffassung, die realiter auf die theologische Konstruktion eines unbedingten Willen Gottes zurückgeht,3 eine Reihe "empirischer Befunde" ins Feld. Die Frage ist, warum er glaubt, mit ihnen falls wirklich nötig - und in seiner Perspektive überhaupt möglich... - gegen diesen (oder überhaupt einen) Standpunkt argumentieren zu können.

Befunde oder Ergebnisse empirischer Untersuchungen sind theorierelativ interpretierte Daten dieser Forschung. Faktisch stellt Herr Roth damit Deutungen gegen die Annahme eines theologisch eingefärbten Willenskonzepts, wer immer ein solches auch vertreten sollte. (Nicht ausschließen möchte ich, dass er annimmt, jemand vertrete real den Vorschlag, ein solches Konzept in der Wissenschaft - wieder - anzunehmen, nachdem es mit dem Rückgang der gesellschaftlichen Bedeutung religiöser Überzeugungen ständig an allgemeiner Bedeutung verliert.)

Vor allem expliziert er nirgends die Grundlage seiner Deutungen von Daten aus der Hirnforschung. Diese Basis besteht bekanntlich ihrerseits in Annahmen. Eine davon ist die von Herrn Roth anscheinend für sinnvoll erachtete Unterstellung bzw. Hypothese eines wohl durchgehenden Determinismus von Naturprozessen. Wenn man zur Vermeidung einer Diskussion über die Unterscheidung von Natur und Kultur wiederum stillschweigend und vielleicht sogar in seinem Sinne unterstellt, er meine jedwedes Geschehen, dann geht er von der Realität ('Existenz'?) eines Determinismus allen Geschehen aus - und nicht von dem Konzept eines Determinismus, von dem jeweils zu zeigen wäre, wie weit es real anwendbar ist. Nur stellt die Entscheidung, eine nur als Konzept denkbare Annahme oder Vorstellung realistisch bzw. 'ontologisch' aufzufassen logisch gesehen einen naturalistischen Fehlschluss dar - nach der Systematisierung von Hartmann den zweiten von drei möglichen: den der ontologische Hypostasierung.4

"Das Problem", das Herr Roth zur Diskussion stellt, ist also weniger, ob ein obsoletes Konzept aus einer vorwissenschaftlichen Denk- oder besser gesagt Erzähltradition 'existiert' oder nicht und darüber hinaus auch noch 'angenommen' oder abgelehnt werden sollte; es gibt dieses Konzept als erzählerische und literarische Fiktion offensichtlich seit langem mit allen Folgen, die historisch damit verbunden waren und noch sind. (Unter kulturhistorischen und geistesgeschichtlichen bis hin zu sozialen, insbesondere politischen Gesichtspunkten ist eher die Frage interessant, wie es zur Etablierung einer solchen Vorstellung kam - eine nach literarischen und archäologischen Quellen nachvollziehbare psychohistorische Rekonstruktion hat vor bald drei Jahrzehnten m.W. bisher zum ersten und einzigen Mal der verstorbene Princeton-Psychologe Julian Jaynes in seinem Buch The Origin of Consciousness in the Breakdown of the Bicameral Mind versucht - und zu welchem Zweck dieses Konzept von wem real auch angenommen und durchzusetzen versucht wurde, heute noch vertreten oder wieder zur Geltung zu bringen, ja vielleicht sogar gegen andere Denkweisen evtl. auch mit Gewalt durchzusetzen versucht wird.)

Ich finde es wenig förderlich, dass Herr Roth ein Problem aufgreift, das lediglich hartnäckige Metaphysiker spannend finden, während es nach der doch schon ziemlich weitgehenden Klärung der biologischen Verhältnisse beim Lernen vielleicht interessant wäre zu erfahren, wie sich im Gehirn die gezielte Aktualisierung von Erinnerungen und Bildung von Vorstellungen zeigt, die wir etwa bei Überlegungen in Betracht ziehen, um zu Entscheidungen als Voraussetzung von gewollten oder wie umgangssprachlich auch gesagt werden kann: von Willenshandlungen zu kommen. Von Wissenschaftlern wäre m. E. zu erwarten, statt Scheindebatten zu führen ihre Forschungsergebnisse methodisch exakt und begriffslogisch adäquat zu formulieren. Wenn ich richtig sehe, sind in der Hirnforschung in dieser Beziehung nirgends Konzepte metaphysischer oder auch nur philosophischer Art nötig, allerdings auch keine märchenhaften Sprachkonstruktionen, mit denen eine cerebrale Pseudopsychologie kreiert wird, nach der dem Schein nach nicht mehr individuelle Menschen denken, werten und wägen, entscheiden usw., sondern nach der all das nun unser Gehirn oder ein Untersystem davon für uns macht oder noch Wunderlicheres. Denn Herr Roth reifiziert sogar die Substantivierungen von Aktivitäten wie wünschen und beabsichtigen, nämlich Wünsche und Absichten, die er nicht als spezifische Handlungen von uns aufzufassen scheint, sondern die bei ihm offenbar eine Art Eigenleben führen, wenn sie da etwa "aus dem Unbewusstem (dem limbischen System) in die assoziative Großhirnrinde aufsteigen"... (gemeint sind möglicherweise gar keine Wünsche etwa nach Spagettis zum Mittagessen und die Absicht, sich diese auf dem Weg nach Hause noch schnell zu besorgen, sondern Impulse aus dem Bereich der biologischen Bedürfnisregulation wie etwa Hunger... )

Zur Interpretation von Daten, die von neurophysiologischen Registrierinstrumenten bei der Untersuchung von Vorgängen im Gehirn geliefert werden, sind in erster Linie, wenn nicht ausschließlich präzise psychologische Konzepte vonnöten, denen sie zugeordnet werden können. Hirnforscher müssten angesichts der Unterschiedlichkeit, Komplexität und Subtilität von psychischen und geistigen Einzelleistungen im Gesamt des psychisch-geistigen Geschehens sogar besonders gute, vielleicht unsere besten Psychologen sein, wenn sie versuchen, spezielle Leistungen davon wie Willenshandlungen, also gewollte Reaktionen mit Sicherheit spezifischen Hirnaktivitäten reliabel zuzuordnen; zumindest sind sie auf valide psychologische Kenntnisse und deren präzise Konzeptualisierungen angewiesen.

Darauf hat kürzlich auch der Bamberger Psychologe Dietrich Dörner in Ergänzung zu einer Stellungnahme von Wolfgang Prinz5, die schon in diese Richtung wies, in seinem Kommentar "Man muss wissen, wonach man sucht"6 zu dem erwähnten MANIFEST7 hingewiesen. - Wissenschaftslogische und methodenkritische Vorarbeiten dazu gibt es bereits: sie liegen in dem Werk Philosophische Grundlagen der Psychologie des Essener Psychologen und Philosophen Dirk Hartmann vor (s. Anm. 4). Bei der Gelegenheit sei auch darauf hingewiesen, dass dieser psychologische Kenner eine Erörterung der Frage nach Art und Relevanz eines philosophisch akzeptablen und wissenschaftlich begründeten Begriffs von Willensfreiheit ebenfalls schon vor längerem vorgelegt hat.8

Anmerkungen

1 Philosophical Foundations of Neuroscience Blackwell, Oxford 2003, repr. 2004; s.a. Gehirn & Geist 5/2004 S. 43-45, online über http://www.wissenschaft-online.de/artikel/758183 bzw. http://www.wissenschaft-online.de/gehirn_geist/pdfs/leseprobe/GuG_04_05_S043.pdf zu erreichen

2 Gehirn &Geist 6/2004, S. 3, online über http://www.gehirnundgeist.de/artikel/761890 oder direkt auf http://www.wissenschaft-online.de/gehirn_geist/pdfs/frei/GuG_04_06_S003.pdf zu erreichen; s.a. http://www.wissenschaft-online.de/abo/ticker/761994 (dazu: http://www.wissenschaft-online.de/artikel/762589 und http://www.wissenschaft-online.de/artikel/763024 )

3 Schwemmer, O.: Wille In: Mittelstraß, J. (Hrsg.): Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie 4. Bd., Metzler, Stuttgart und Weimar 1996, S. 704-707; ebenso Seebaß, G.: Wille/Willensfreiheit in: Theologische Realenzyklopädie Band XXXVI de Gruyter, Berlin und New York 2003, S. 55-73.

4 Philosophische Grundlagen der Psychologie, WBG, Darmstadt 1998, S. 327

5 Gehirn & Geist 6/2004, S. 34-35, online c/o http://www.gehirnundgeist.de/artikel/761827 bzw. direkt http://www.wissenschaft-online.de/gehirn_geist/pdfs/leseprobe/GuG_2004_06_S034.pdf

6 Gehirn & Geist 7/2004 S. 36-38 online c/o http://www.gehirnundgeist.de/artikel/764555 bzw. direkt http://www.wissenschaft-online.de/gehirn_geist/pdfs/leseprobe/GuG_04_07_S036.pdf

7 Gehirn & Geist 6/2004 S. 30-37, online c/o http://www.gehirnundgeist.de/artikel/761938 bzw. direkt http://www.wissenschaft-online.de/gehirn_geist/pdfs/leseprobe/GuG_04_06_S030.pdf oder auch auf http://www.gehirnundgeist.de/blatt/det_gg_manifest

8 Willensfreiheit und die Autonomie der Kulturwissenschaften. Handlung, Kultur, Interpretation 1, 2000, 66-103, online über http://www.uni-essen.de/~bg0067/Dokumente/Willensfreiheit.pdf zu erhalten.

 



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