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Leserbrief zu "Das Leben - eine einzige Erfindung" 
von Ingo - Wolf  Kittel

 

FALSCHE ERINNERUNGEN - Das Leben - eine einzige Erfindung von Marion Rollin
 -  Origninal aus: GEO-WISSEN - DIE WELT VERSTEHEN Nr. 38 - DENKEN UND KREATIVITÄT SPIEGEL-Online: S. 66-74

DAS LEBEN? UNSERE ERFINDUNG!

Nicht nur das Gedächtnis, wie es in dem Artikel heißt, sondern das Gehirn insgesamt hat man m.W. bisher "für eine Art Computer" gehalten, "der unbestechlich aufzeichnet," was aus unserem Körperinneren und von außen über unsere Sinnesorgane an Informationen
in unser Hirn hinein kommt - wie in einen Kasten...

Schade nur, dass die Autorin dies zwar schreibt; denn sie verweist darauf lediglich, um die große Wichtigkeit der  - allerdings nicht für Psychotherapeuten, jedenfalls
nicht mehr seit Freuds "Traumdeutung" von 1900...  - neuesten, ihrer Angabe nach weltweit "Neurobiologen, Psychologen und Sozialwissenschaftler" beschäftigende, weil angeblich "verwirrende Erkenntnis" hervorzuheben: dass unser "Gedächtnis keineswegs ein Archiv ist, das pendantisch die Vergangenheit speichert", wie sie (ihren Vergleich ein wenig vergewaltigend, von anderem ganz zu schweigen) zunächst schreibt.

Selbst scheint sie aber von diesem "Irrtum" nicht gerade beeindruck zu sein; fährt sie doch im weiteren Text ohne erkennbare Berücksichtigung der von ihr berichteten
"Erkenntnis" fort zu schreiben, dass etwa Engramme "abgelegt" oder "aufbewahrt" würden - wie eben Akten in einem Archiv...  (in der GEO-Ausgabe des Artikels auf S. 70).

Meiner Kenntnis nach ist nicht einmal sicher, dass diese Art von Analog-, Bild- oder "Modell"-Denken, das viele durchaus für "wissenschaftlich" halten, wenigstens in der neurophysiologischen Forschung schon aufgegeben worden wurde. Jedenfalls kritisiert der renommierte australische Hirnforscher Max R. Bennett in seinem 2003 mit dem Oxforder Philosophen Peter M.S. Hacker bei Blackwell publizierten und umfassenden Lehrbuch "Philosophical Foundations of Neuroscience" den Gebrauch des dazu gehörigen Informationsbegriffs ziemlich gründlich, um es höflich auszudrücken.

(Die Autorin folgt in ihrem Artikel einer anderen, leider ebenfalls weithin üblichen Verdinglichung/Reifikation des hochabstrakten Begriffs "Information", wenn sie nach einem anderen [Vor]Bild meint, Informationen - jetzt im Plural; gemeint vielleicht als bits oder bytes und damit in der Informationstechnik verwendete, mathematisch berechnete "Informationseinheiten"?! - wären etwas, was sogar etwas tun könnte, nämlich uns "geradezu überfluten"!  - ebd.)

Vor der Verhexung des Verstandes durch die Sprache und in ihr übliche Bilder oder Analogbildungen hat zwar ein derart bedeutender Sprachphilosoph wie Ludwig Wittgenstein einstmal eingehend gewarnt; aber erstens ist dies lange her, und zweitens war seine Warnung offenbar schon damals vergebens, wie die seit langem weithin übliche Gleichsetzung von Computer und Gehirn und vielen anderen technischen Metaphern in der wissenschaftlichen Erforschung von uns Menschen und anderen biologischen Systemen zeigt.

Etwas mehr Achtsamkeit für unsere psychologisch relevanten umgangssprachlichen
Worte, mit denen über zahllose Generationen gemachte Erfahrungen seit Jahrhunderten hinreichend zuverlässig bezeichnet werden, würde allerdings genügen zu erkennen, dass "Gedächtnis" nicht nur kein irgendwie selbsttätiges Archiv, kein Speicher, Computer oder überhaupt eine Art Maschine ist, sondern nicht einmal etwas dazu auch nur entferntest Ähnliches ist und sein kann.

Als Ableitung von 'gedacht' verweist nämlich der selbst in der Wissenschaft gebrauchte, aus der sog. Alltagspsychologie stammende Begriff "Gedächtnis" darauf, dass damit eine Tätigkeit (oder die Fähigkeit dazu) gemeint ist! Denn begrifflich geht "Gedächtnis" auf unsere (entgegen dem ursprünglich emotionalen Sinn dieses Begriffes) "geistig" genannte Tätigkeit des Denkens zurück. - Noch leichter ist bei unserem zu "Gedächtnis" gleichbedeutenden Wort "Erinnerung" zu erkennen, dass es sich beim Erinnern oder Gedächtnis um eine Aktivität, ein Tun "im Innern" handelt, "im Kopf", wie jedermann weiss, auch wenn "der Volksmund" die Ausdrücke quasi zusammengezogen und daraus die Wendung gemacht hat, man habe dieses oder jenes "in Erinnerung". Nur versteht wohl fast jeder auch diesen Ausdruck als Hinweis darauf, sich "in"(!) der Tat zu erinnern
oder sich erinnern zu können.

Anscheinend fällt am ehesten akademisch Gebildeten ein, deswegen auch anzunehmen, Erinnerung sei eine Art Behälter, in dem Gedächtnis-"Inhalte" aufbewahrt würden, ein Denken, dem analog wäre anzunehmen, Tanzschritte würden "in" den dabei betätigten Muskeln "gespeichert".  (Man hätte in diesem Fall sogar einen augenfälligen "Beweis": den eventuellen Zuwachs an Muskelmasse durch das Tanztraining... )

Erinnern tun wir (wer das aus eigener Beobachtung nicht weiss und sich auch logisch nicht klar machen kann, dem könnten dies genau darauf hinweisende Ergebnisse aus der jüngsten Hirnforschung "zeigen") mit dem selben Gehirn und sogar denselben Partien
unseres Gehirns, mit dem wir auch zuvor schon auf die dann erinnerten Erlebnisse reagiert haben, wie auch gar  nicht anders zu erwarten ist; denn im Unterschied zu der wesentlich "einfacheren" und alle "lernfähige" Lebewesen auszeichnenden Fähigkeit
zum Wiedererkennen von einmal Erlebtem beim erneuten Erleben desselben besteht das uns - uns als Menschen - jedenfalls mögliche Erinnern darin, sich die Wahrnehmungen bei früheren Erlebnissen auch ohne äußeren Anlass nur "im eigenen Innern", genauer: "im Kopf" - nur nicht "im"(!) Gehirn, sondern "mit"(!) diesem - vorzustellen, wie umgangssprachlich dazu gesagt wird (fachlich ist von "imaginieren" die Rede).

Erinnern besteht in bloßem Wiederholen, ja "ist" nichts anderes als Wiederholen: ein Imitieren ehemaliger Wahrnehmungen, wie dies wissenschaftlich definiert wird (Dirk Hartmann: Philosophische Grundlagen der Psychologie, Darmstadt 1998 S. 149). Erinnerungen "sind" daher schlichte Wiederholungen, und "bestehen" auch immer nur in dem Momenten, in denen sie real gemacht oder "gepflegt" werden. (Deswegen werden
Erinnerungen so wenig "gespeichert" wie Tanzschritte; vielmehr bilden wir auf eine Weise, die Hirnforscher neurophysiologisch zu klären haben, bereits mit dem
Wahrnehmen die Fähigkeit aus, sie wiederholen oder "wach rufen zu können", wie der schon bemühte Volksmund es so ausdrückt.)

Erinnerungen können deswegen prinzipiell endlos wiederholt werden, wenn die physiologische (Grund)Fähigkeit dazu erst einmal herangereift (etwa im dritten/vierten Lj.) und durch reales Erleben jeweils angeregt worden ist, und sei es nur, dass sie willentlich wiederholt werden! Bekanntlich kann man umgekehrt deswegen auch immer die Fähigkeit zu genauem und sicheren Erinnern, dh. zum Vorstellen einstmals Erlebten durch pures
Wiederholungen bis zu dem individuell jeweils möglichen Ausmaß stets noch steigern.

Wir profitieren von dieser wenn nicht einzigartigen, so zumindest für uns Menschen besonders typischen Erinnerungs- und damit Vorstellungsfähigkeit auf vielfache Weise, allerdings nicht nur: sie ist auch Grundlage unserer "Neigung" zur Wiederholung des
Immer-Gleichen, unserer Eigenheit, Gewohnheiten aller Art zu "entwickeln" und zwar in einem Ausmaß, die zu dem bekannten Sprichwort von der "Macht der Gewohnheit" Anlaß gegeben hat, so dass wir auch an Sitten und Gebräuche selbst sonderbarster Art festhalten, oder beispielsweise Tics ausbilden und noch weit abnormere Reaktionsweisen wie Neurosen jeder Ausprägung, fixe Überzeugungen und fanatische Einstellungen auch wider alle Logik und Vernunft.

Würden wir dabei nicht immer wieder kleine oder größere "Fehler" machen, sondern uns stets perfekt an alles oder wenigstens alles wesentliche erinnern, würden wir nicht nur das "gleiche", sondern wie Maschinen stets genau dasselbe tun.

Nur wäre das mit der unablässig sich verändernden Wirklichkeit schweirig zu vereinbaren. Vor allem ist das nicht mit einem Organ zu leisten, mit dem wir stets zugleich immer auch jeweils aktuelle Wahrnehmungen verarbeiten müssen, wodurch es auf unterschiedlichste
Weisen, von denen in dem Artikel einige Möglichkeiten eingängig dargestellt werden, dazu kommen kann, dass beim insbesondere spontanen, unaufmerksamen nur wenig sorgsamen oder wegen anderer Umstände ungenauen, nicht ausreichend unkontrollierten Erinnern diese neuen Eindrücke gleich mit in die jeweiligen Erinnerungsvorstellungen eingearbeitet werden.

Als Psychotherapeut kann man sich nur wundern, dass derartige und den meisten erwachsenen Menschen aus jahrlanger Selbstkenntnis eigentlich selbstverständliche
Zusammenhänge hochspezialisierten Fachforschern in ihren Labors, auf ihren Tagungen und Kongressen nicht nur nicht in den Blick kommen, sondern diese - jedenfalls nach dem Artikel - von der wachsenden Anzahl von Hinweisen auf die realen Verhältnisse sogar "verwirrt" sein sollen.

Verwirrend wirkt sich anfangs allerdings oft - das ist tägliche Erfahrung in der psychotherapeutisch Praxis - die Aufdeckung von Selbsttäuschungen aus!  Sie dann
journalistisch weiter zu verbreiten, noch dazu just in dem Artikel, in dem über ihre Entdeckung berichtet wird, ist nicht gerade sinnvoll, obschon gleichfalls durchaus verständlich, und das nicht nur wegen der Neigung von uns allen zur Wiederholung des Immer- Gleichen.

Es steht ja an zu entdecken, dass man auch selbst denselben täuschenden oder falschen (von lat. falsus ) Bildern aufgesessen ist. Nur gibt es gewisse, psychologisch ziemlich genau und auch aus dem Alltag recht gut bekannte Reaktionen, die dem entgegenstehen, sich eigene Selbsttäuschungen einzugestehen.

Ihr Ausbleiben in solchen Fällen würde allerdings anzeigen, dass es mit derartiger Selbsterkenntnis nicht weit gediehen ist, sondern vielmehr weit elementarere Gewohnheiten und Eigenheiten im Spiel sind; beispielsweise könnte dabei das Ausmaß der gewohnheitsmäßig aufgebrachten Aufmerksamkeit eine nicht unbedeutende Rolle
spielen...

Mit freundlichen Grüßen

I N G O - W O L F   K I T T E L
Facharzt für Psychother. Medizin
D-86152 Augsburg Frauentorstr. 49
Tel.: +49-(0)821 - 349 45 05 [AB]
http://www.bbpp.de/kittel-neuro.htm
http://www.sgipt.org/gesch/kronf.htm
http://de.wikipedia.org/wiki/Arthur_Kronfeld
http://www.bautz.de/bbkl/k/kronfeld_a.shtml
http://www.sgipt.org/medppp/krank/iwk1.htm
http://www.sprache-werner.info/index.php?id=1954
http://www.sgipt.org/sonstig/metaph/glaube/iwk_gl.htm
http://www.kirchenkritik.de/archiv/glauben_ohne_glauben.html
http://www.schulfach-ethik.de/ethik/Gymnasium/hirnforschung.htm
http://www.philosophers-today.com/whats-going-on/cafes.html
http://www.integraleweltsicht.de/Veranstaltungen/veranstaltungen_2006.htm
http://de.wikipedia.org/wiki/Julian_Jaynes


* http://www.spiegel.de/wissenschaft/mensch/0,1518,444334,00.html
http://www.spiegel.de/wissenschaft/mensch/0,1518,druck-444334,00.html

 



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