in der SZ vom 22./23. Mai 2004
Der Leiter des Instituts für Medizinische Psychologie an der Ludwig-Maximilians-Universität in München, Ernst Pöppel, wehrt sich in seinem Leserbrief, ausgelöst durch den Bericht von Ulrich Kühne (SZ v. 17. Mai) über das SZ-Forum, entschieden (möchte als Hirnforscher nicht mit anderen zusammen „verhaftet werden) gegen den Verdacht, die gleiche Ansicht wie seine Fachkollegen zu vertreten, wonach der Mensch keinen freien Willen habe. Zum Begründen seiner anderen Auffassung weist Pöppel, dessen Meinung sicher im SZ-Forum mit Interesse gehört worden wäre, zunächst auf die Experimente des Neurophysiologen Libet hin. Sie waren der Anstoß, an der Willensfreiheit des Menschen zu zweifeln. Wie Libet herausfand, wurde den Versuchspersonen der Entschluß, eine Handbewegung zu machen, immer erst ca. ½ Sekunde später bewußt, als das zugeordnete Gehirnsignal auftrat. Pöppels Abwertung der Experimente von Libet kann nicht überzeugen. So bleibt er nähere Angaben über die „besser kontrollierten Instruktionen für die Versuchspersonen schuldig. Welche Ergebnisse brachten seine Untersuchungen? Erhielt er eine andere Zeitdifferenz? Sie hätte das Ergebnis nur quantitativ beeinflußt und die Folgerungen für die Willensfreiheit nicht grundsätzlich in Frage gestellt. Seine Schwierigkeiten, die Befunde (Libets) zu bestätigen, widerlegen sie nicht. Im Gegenteil, sie bestätigen sie. Um seine Behauptung zu begründen „Wir sind zum freien Willen geboren, wäre es notwendig, einen umgekehrten Ablauf zu erhalten, also zuerst den Bewegungsbeschluß der Versuchsperson und dann das zugeordnete Gehirnsignal.
Pöppels Hinweis auf das implizite Wissen, das sich im Gegensatz zum expliziten Wissen in einem gegebenen Augenblick der bewußten Verfügbarkeit, also der sprachlichen Mitteilung entziehe, bestätigt die Tatsache, daß der Mensch eine beschränkte Kontrolle über das Gehirn hat. Er kann nur mit den Gehirnaktionen „Überlegungen anstellen, die ihm als Gedanken bewußt werden. Er hat keinen Einfluß auf die Organisation des Gehirns und er kann die einzelnen Areale des Gehirns nicht kontrollieren. Er darf sich glücklich schätzen, wenn ihm das Richtige zur richtigen Zeit „einfällt und wenn er impulsiv und bei Gefahr richtig handelt, ohne überlegen zu müssen. Mit einem freien Willen hätten unsere Vorfahren nicht überlebt. Die Evolution hat sichergestellt, daß Arterhaltung und Fortpflanzung auch beim Menschen nicht etwa durch einen freien Willen gefährdet werden. Das menschliche Gehirn hat ca. 100 Milliarden Gehirnzellen (Neuronen), die je mit bis zu 10 000 anderen vernetzt sind. Zum Glück findet seine Tätigkeit hauptsächlich unbewußt statt, und zwar mit einem Datenumsatz im Megabitbereich. Wir wären überfordert, diese Datenflut zu verwalten. Beim Sprechen sind dagegen nur ca. 35 Kilobit zu bewältigen, was manchem schon Schwierigkeiten bereitet.
Ausdruck und Grundlage eines freien Willens ist für Pöppel „die Möglichkeit der Selbstreflektion, das Monitoring der eigenen Aktivitäten. Er nennt es einen „auto-noetischen Prozeß, der uns z. B. erlaube, die Bilder in unserem episodischen Gedächtnis aktiv aufzurufen. Leider haben wir nur bedingt Einfluß auf das Abspeichern von Bildern. Weder der Umfang der Speicherung noch deren Intensität unterliegt unserer Kontrolle. Daher müssen wir uns damit abfinden, was uns das Gehirn liefert, ausgelöst durch Assoziationen und Sinneseindrücke (Sehen, Hören, Riechen, Schmecken, Tasten). Die Erfolge beim Aufrufen (der Bilder) bleiben häufig aus. Vergessene Daten (Namen, Orte, Ereignisse) lassen sich mit dem besten (freien) Willen nicht hervorholen. Wir wissen nicht einmal, in welchem Bereich des Gehirns das Gesuchte, genauer gesagt die verschiedenen Merkmale des Gesuchten in Abhängigkeit von dessen Besonderheiten gespeichert worden ist.
Da die Struktur des Gehirns bereits bei der Geburt festliegt, wäre es interessant zu erfahren, wann der freie Wille nach Ansicht Pöppels in Kraft tritt; sofort, kontinuierlich, in Stufen oder durch Eingebung in welchem Alter? Immerhin räumt Pöppel ein, daß „wir uns manchmal selbst ausgeliefert sind, was kein Argument dafür sei, es immer zu sein. Das Kriterium für die Ausnahme von der Regel zu definieren, also manchmal kein freier Wille, hat Pöppel nicht genannt. Auch aus der von Pöppel genannten „Beherrschung der Zeit, die uns frei macht oder machen kann fällt es mir schwer, seiner Folgerung zuzustimmen „Wir können also tun, was wir wollen.
Ulrich Werner
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