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Gehirn - Geist / Artikel Übersicht / 32. D-Nur ein Scheinproblem
 

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Nur ein Scheinproblem
 Zu den erkenntnistheoretischen Prämissen der Neurowissenschaften

 

11 führende deutsche Neurowissenschaftler veröffentlichten kürzlich ein Manifest („Gehirn & Geist“ 6/2004), in dem unter anderem behauptet wird, dass es sich bei Phänomenen wie „Bewusstsein“, „ICH-Erleben“ und „Freiem Willen“ um die großen Fragen der Neurowissenschaften handelt, die „in den nächsten 20 bis 30 Jahren“ gelöst würden! Hierin offenbart sich nach Auffassung der Unterzeichner ein vollständiger Mangel an den epistemologischen Grundlagen, wie sie sich innerhalb unserer 2500 jährigen abendländischen Denktradition als permanent gültig herauskristallisiert haben.

Die großen Denker wie Anaximander, Parmenides, Platon und Aristoteles und die großen Philosophen der Neuzeit von Descartes und Spinoza bis Kant, Fichte und Hegel, wussten so gut wie nichts über die Anatomie und Physiologie des Gehirns. Dennoch haben sie ihre zeitlos gültigen Beiträge geleistet zum großen Gemeinschaftswerk der klassischen Epistemologie als der Lehre von den Voraussetzungen von Wissenschaft überhaupt (s.a. Treder, 2003).
Zur Pflichtlektüre eines jeden Neurowissenschaftlers, insbesondere wenn es sich um Direktoren von Max-Planck-Instituten handelt, scheint uns das epistemologische Vermächtnis des großen Namenspatrons dieser als Leuchttürme der Wissenschaften konzipierten Einrichtungen zu gehören. In seiner denkwürdigen Göttinger Abschiedsvorlesung am 17. Juni 1946 mit dem Titel „Scheinprobleme der Wissenschaft“ (Planck, 1958), heißt es:.

Um die Frage, ob ein bestimmtes ins Auge gefasstes Problem wirklich sinnvoll ist, zur Entscheidung zu bringen, müssen wir vor allem die Voraussetzungen genau prüfen, die in der Formulierung des Problems enthalten sind. Aus ihnen ergibt sich in manchen Fällen ohne weiteres, dass es sich nur um ein Scheinproblem handelt. Am einfachsten liegt die Sache, wenn in den Voraussetzungen ein Fehler steckt… (S.5).

Und weiter:

„Es ist daher nicht möglich, von einem einheitlichen Standpunkt aus sowohl die körperlichen als auch seelischen Vorgänge zu überschauen, und da man, um zu einem klaren Resultat zu gelangen, den einmal eingenommenen Standpunkt, der den anderen ausschließt, festhalten muss, so verliert die Frage nach dem Zusammenhang der körperlichen und der seelischen Vorgänge ihren Sinn. (S. 19).

Damit ist das sogenannte Leib-Seele-Problem als Scheinproblem entlarvt. Auch das Problem des „Freien Willens“ hat der bekennende Kantianer Planck als ein Scheinproblem erkannt:

„Zusammenfassend können wir also sagen : Von außen betrachtet ist der Wille kausal determiniert, von innen betrachtet ist der Wille frei. Mit der Feststellung dieses Sachverhalts erledigt sich das Problem der Willensfreiheit. Es ist nur dadurch entstanden, dass man nicht darauf geachtet hat, den Standpunkt der Betrachtung ausdrücklich festzulegen und einzuhalten. Wir haben hier ein Musterbeispiel für ein Scheinproblem“ (S. 25/26).

Was im Manifest als große wissenschaftliche Herausforderung bezeichnet wird, lässt sich mit den Methoden der exakten Naturwissenschaften, als deren Sachwalter besagte Neurowissenschaftler auftreten, tatsächlich nicht untersuchen. Wir haben hier vielmehr ein Scheinproblem vor uns, das geradewegs aus der Ur-Aporie menschlichen Denkens resultiert, nämlich dem Postulieren eines agierenden ICHs in Gegenüberstellung zur Welt als der Summe aller Nicht-ICHs.

Das ICH gilt seit den Anfängen des abendländischen Denkens als zentrales Problem der Philosophie. In seinem Lehrgedicht Periphyseos (Diels & Kranz, 1974) berichtet Parmenides, wie ihn Aletheia, die Göttin der Wahrheit, über die „Doppelköpfigkeit“ der Menschen unterrichtet. „Doppelköpfigkeit“ meint das logisch unstatthafte Postulieren eines der Welt gegenüberstehenden (und Aussagen machenden) ICH, wo das ICH doch Bestandteil der Welt ist und bleibt. Aletheia erklärt die „Doppelköpfigkeit“ mit den daraus folgenden inneren Widersprüchlichkeiten als für das menschliche Denken unvermeidlich, ja notwendig, sogar überlebensnotwendig. Denn, ohne Übertretung dieses logischen Verbots mein ICH der Welt gegenüber zu stellen, kann es ja keine Aussage geben und damit weder Wissenschaft noch Philosophie noch Religion noch Kultur…. Da all unser Denken und Tun auf einer Ur-Aporie ruht, kann es für uns nur darauf ankommen ihrer stets eingedenk zu sein, um so die in ihrem Gefolge erscheinenden Scheinprobleme nicht mit wirklich offenen Fragen zu verwechseln und so der Wissenschaft wesentliche Ressourcen zu entziehen.

Eine mathematische Formulierung des Doppelköpfigkeitstheorems stammt von Bertrand Russell : Gibt es eine Klasse, die sich selbst als Element enthält?

Wenn ja, dann entspricht dies der Situation eines der Welt gegenübergestellten ICHs mit allen daraus resultierenden lebenspraktischen Paradoxien, Aporien und Scheinproblemen. Pars pro toto sei hier nur an den Barbier erinnert, der alle Männer seines Dorfs rasierte mit Ausnahme derer, die sich selbst rasieren. Rasierte er sich nun selbst oder nicht?

Kurt Gödel (1931) verdanken wir die darauf aufbauenden weitergehenden Einsichten, wonach

1) Jede „genügend inhaltsreiche“ mathematisch formulierbare Theorie notwendiger Weise unvollständig ist, da sie zu neuen Fragestellungen führt, die

2) mit den Mitteln dieser Theorie nicht entscheidbar sind.

Von daher ergibt sich ein Bedürfnis nach einer neuen mächtigeren Theorie, mit der sich die alten wie auch die neuen Fragen behandeln lassen. Doch auch für die neue Theorie gilt, dass sie notwendiger Weise zu neuen, durch sie nicht zu beantwortenden Fragen führt. Wir stehen damit vor einem infiniten Regress, der die Unvollendbarkeit unseres Wissens besagt (Treder, 1999).
Kant, der sich der denknotwendigen Ur-Aporie eines der Welt gegenüberstehenden ICHs sehr wohl bewusst war, versuchte Doppelköpfigkeit und Wissenschaftlichkeit durch die Einführung seines „transzendentalen Subjekts“ zu vermitteln. Das „transzendentale Subjekt“ (der ideale, objektive oder extramundane Beobachter) verfügt im Unterschied zum empirischen Subjekt über kein subjektives Erleben. Es gilt Kant als Epistem und als Grundlage seiner Epistemologie wie er sie in seiner „Kritik der reinen Vernunft“ entwickelt. Dem empirischen ICH wie auch dem „Freien Willen“ weist Kant den ontologischen Status von Postulaten der praktischen Vernunft zu, die als solche naturwissenschaftlichen Methoden verschlossen sind.

Nur als „Naturwesen“, also als Teil der Natur sei der Mensch durch die Naturgesetze zu erklären, nicht aber als „Vernunftwesen“. Als Vernunftwesen sei der Mensch durch die „Kausalität durch Freiheit“ bestimmt. Ein Handeln aus freiem Willen sei nicht ein Handeln auf Ursachen sondern ein Handeln auf Motive hin. Man müsse von der „völligen Unbegreiflichkeit des Begriffs der Freiheit einerseits und seiner „Unentbehrlichkeit“ andererseits ausgehen (Kant, 1788).

Nicht ein in jeder Richtung gleichermaßen offener Wille ist „frei“, sondern nur ein Wille, der von Gründen, Prinzipien, Zielvorstellungen und Überzeugungen eines menschlichen Subjekts geleitet ist verdient diese Qualifizierung. Hinter einer „freien“ Willensentscheidung steht immer eine einmalige Persönlichkeit mit ihrer unverwechselbaren Biographie. Zum „Freien Willen“ gehört übrigens auch die Bereitschaft, die Verantwortung für die getroffene Entscheidung zu übernehmen.

Selbst wenn ihm alle Determinanten für eine zu treffende Willensentscheidung in Form von verrechenbaren Daten zur Verfügung stünden, wäre ein Naturforscher prinzipiell nicht im Stande, die schließlich getroffene Entscheidung vorauszusagen. Die Erklärung liegt - genau wie bei der Wettervorhersage - in der Komplexität des Systems, genauer in dessen Überdeterminierbarkeit, bzw. „chaotischer“ Verfassung. Der „Freie Wille“ des Menschen, verstanden als prinzipielle Nichtvorhersagbarkeit seiner Entscheidungen, folgt aus dessen „chaotischer“ Überdetermiertheit. Das Libetsche und andere Laborexperimente tragen nichts zum Thema „Freier Wille“ bei, weil es hier nur um künstlich isolierte Teilaspekte komplexen Verhaltens geht, für die die Biographie weitestgehend ohne Belang ist. Für die Intention, in einer derartigen Versuchsanordnung einen Finger zu beugen, sind Begriffe wie Willensentscheidung oder Willensbildung unangemessen und deshalb irreführend.

Wie stand es wohl um den „Freien Willen“ als Luther am Wormser Reichstag seinen bekannten Ausspruch tat : “Hier stehe ich, ich kann nicht anders“ ? Nur auf eine ganz bestimmte Weise und nicht anders zu können, ist das nicht eine Offenbarung hochgradiger Unfreiheit ? Ganz im Gegenteil ! Luther folgte nämlich weder einem inneren noch äußeren Zwang sondern bekannte sich in aller Freiheit zu seiner höchst unbequemen, für Leib und Leben riskanten innersten Überzeugung. Derartige innere Überzeugungen sind nicht das Ergebnis von Überredung und Propaganda sondern Ausfluss des für jedes Individuum einmaligen, unverwechselbaren historischen Prozesses der biographischen Subjekt-Umwelt Interaktionen. Wie zuletzt H. Putnam (1988) überzeugend gegen seinen eigenen früheren „Funktionalismus“ einwandte, ist eine „kalkülmäßige Darstellung“ sowohl mentaler Prozesse wie auch der damit korrespondierenden neurodynamischen Konstellationen unmöglich.

Die jüngst von dem Sozialpsychiater K. Dörner (2004) kreierte Denkfigur des „Widerwilligen Wollens“ illustriert auf trefflichste die von Kant als praktisch-vernünftiges Postulat verstandene Willensfreiheit :

„…denn kein Mensch ist aus freien Stücken gut. Aus freien Stücken, also nach meinem Willen wollen, kann ich nur den sympathischsten Patienten oder meine ökonomischen Vorteile oder sonstigen Freiheiten. Den Letzten kann ich hingegen nur gegen meinen freien, natürlichen Willen, das heißt widerwillig wollen, somit aber wollen …durch diesen Salto mortale verwandelt sich meine willkürliche Freiheit in eine moralische Freiheit“.

Ein Wissenschaftler, dem die nötigen epistemologischen Grundlagen fehlen, wird besonders in Gefahr sein, in die Reifizierungs-Falle zu tappen. Es ist eben nicht so, dass hinter dem für uns alle so evidenten ICH-Erleben auch ein geistiges Agens stehen müsste, nämlich das ICH und dass dieses ICH auf Materie einzuwirken vermöchte.

In diese Falle ist beispielsweise Libet geraten, dessen Experimente auf der unsinnigen Prämisse beruhen, dass etwas Geistiges, wie eben der Wille, möglicherweise auf Materielles einzuwirken vermag, was eben durch die Empirie überprüft werden sollte. Damit war das Ergebnis antizipiert, sodass sich eine Interpretation verboten hätte. Das Problem mit den Libetschen Experimenten besteht gerade in der Schlussfolgerung, dass der „Freie Wille“ wissenschaftlich als Illusion entlarvt worden sei. Hätte Libet die Möglichkeit einer psycho-physischen Wirkung ausgeschlossen, wozu er durch Logik und Physik verpflichtet war, dann hätte er auf seine Experimente verzichtet. Die Libet-Experimente haben der irrigen Überzeugung Vorschub geleistet, dass es sich beim „Freien Willen“ um ein wissenschaftliches Faktum handele.
Die gleiche Fehleinschätzung gilt für das ICH, wie auch alle anderen Konstrukte unserer phänomenalen Welt, die wir als zureichende Gründe für unsere Qualia betrachten.

Die Popularität, die die schon 20 Jahre alten Libetschen Experimente heute immer noch genießen, ist im wesentlichen einer verbreiteten Wissenschaftgläubigkeit geschuldet, die von natürlichen Grenzen der Machbarkeit und Wissbarkeit nichts wissen will. Dem kommt der Wissenschaftjournalismus durch Produktion seichter wissenschaftlich verbrämter Unterhaltung („Infotainment“) entgegen, wobei die Grenzen zum esoterischen Unsinn nicht nur berührt sondern oft auch überschritten werden.

Eingedenk des Doppelköpfigkeitstheorems kommt es zunächst einmal darauf an, dass wir die Phänomenbereiche der Erlebnisphänomenologie („mind language“) und der Hirnphysiologie („brain language“) strikt auseinander halten. Wir haben uns dabei klar zu machen, dass diese beiden Phänomenbereiche weder aufeinander rückführbar sind noch in irgendeinem Wechselwirkungsverhältnis stehen.

Die Qualia als die Inhalte der Erlebnisphänomenologie, entspringen dem Prozess der “dynamischen Verkoppelung“ des Organismus mit seiner Umwelt (Maturana, 1982). Es erübrigt sich zu sagen, dass natürlich auch die Qualia ein neuronales Korrelat haben.

Evolutionsbiologisch lässt sich die Konstruktion einer phänomenalen Welt, in der es einen Freien Willen und ein dahinter stehendes ICH gibt, als vorteilhaft für die Spezies und damit auch alsentwicklungsnotwendig verstehen. Es ist für den Organismus vorteilhaft, als hochintegrierte Einheit handeln, planen, wahrnehmen und denken zu können.

Die Unterzeichner:

Thomas Bock, PD Dr., Hamburg
Ron Ferszt, Prof., Berlin
Klaus Dörner, Prof., Hamburg
Wolfgang Droll, Dr., Berlin
Sven Olaf Hoffmann, Prof., Hamburg
Herbert Hörz, Prof., Berlin
Bruno Müller-Oerlinghausen, Prof., Berlin
Wilhelm Rimpau, Prof., Berlin
Henning Sass, Prof., Aachen
Hans-Jürgen Treder, Prof., Potsdam
Gerald Ulrich, Prof., Berlin

Literatur

Diels, H.; Kranz, W.: Die Fragmente der Vorsokratiker, Weimann, Basel 1974

Dörner, K.: Der gute Arzt – aus der Sicht eines Psychiaters. In S. Simon (Hrsg.) Der gute Arzt im Alltag. Deutscher Ärzte-Verlag, Köln 2004

Gödel, K.: Über formal unentscheidbare Sätze der Principia Mathematica und verwandter Systeme. Monatshefte Math. Phys. 38, 1931, S. 173-198

Kant, I.: Kritik der praktischen Vernunft (KpV, 1788) Reclam, Ditzingen 2002

Manifest : Elf führende Neurowissenschaftler über Gegenwart und Zukunft in der Hirnforschung. Gehirn & Geist 6, 2004, S. 30-37

Maturana, H.: Erkennen : Die Organisation und Verkörperung von Wirklichkeit.
Vieweg, Braunschweig/Wiesbaden 1982

Planck, M.: Scheinprobleme der Wissenschaft. Vortrag gehalten in Göttingen am 17. Juni 1946, 5. Aufl. Barth, Leipzig 1958

Putnam, H.: Representation and Reality, MIT Press, Boston 1988

Treder, H.-J.: Über die Unvollendbarkeit der menschlichen Erkenntnis.Edition Weltfenster, Berlin 1999

Treder, H.-J.: Erkenntnistheorie und Hirnphysiologie: Permanenz und Persistenz der Denk-und Naturgesetzlichkeit. In: Ulrich, G. (Hrsg.): Medizin zwischen exakter Naturwissenschaft und humaner Verpflichtung – ein interdisziplinäres Symposion am 30./31. 3. 2001 in Berlin. VAS-Verlag, Frankfurt a. M. 2003, S. 65-67

 



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