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Gehirn - Geist / Artikel Übersicht / 38. P-Das Hirn trickst das Ich aus
 

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SPIEGEL-STREITGESPRÄCH : "Das Hirn trickst das Ich aus"

DER SPIEGEL (52/2004)
 

Neurobiologe Gerhard Roth und Moraltheologe Eberhard Schockenhoff über neue Zweifel an der Entscheidungsfreiheit des Menschen, umstrittene Erkenntnisse der Hirnforschung und die Folgen für das Strafrecht 

SPIEGEL: Herr Roth, verfügen Brautleute über einen freien Willen, wenn sie vor dem Traualtar bekunden: "Ja, ich will"?

Roth: Auch in einem solchen Augenblick ist der Mensch nicht wirklich frei. Womöglich wird er von psychischen Extrembedingungen beherrscht: Er ist wahnsinnig verliebt und handelt praktisch im Affekt. Es kann aber auch sein, dass er sich Fragen gestellt hat: Heirate ich Frau Müller oder doch lieber Frau Meier? Soll ich überhaupt heiraten? Dann kann es schon mal zum langwierigen, quälerischen Hinund-her-Abwägen Hunderter Argumente kommen.

SPIEGEL: Immerhin wäre der Mensch demnach nicht nur seinen Trieben ausgeliefert. Können sich die Brautleute denn mit kühlem Kopf frei füreinander entscheiden?

Roth: Nein, auch das nicht. Die Natur gibt einem nicht die Freiheit mit, sich für Frau Meier und gegen Frau Müller zu entscheiden. Experimente zeigen, dass jeder Entscheidung, und halten wir sie noch so sehr für unseren eigenen Willen, zuvor wichtige Vorentscheidungen vorausgegangen sind - und zwar unbewusst. Wir bekommen davon überhaupt nichts mit. Warum sich Herr Müller für Frau Müller entscheidet, ist für Forscher im Prinzip Schritt für Schritt nachvollziehbar: Da wären zunächst einmal die Gene, die das Temperament eines Menschen weitgehend festlegen; dann prägen frühkindliche Einflüsse spätere Entscheidungsmuster und schließlich die Erfahrungen aller Lebensjahre. In einer Hochzeitszeremonie spiegelt sich kein Wille, der bedingungslos frei wäre.
 
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