Das Anreichern der Umgangssprache mit Verbalsubstantiven (Änderung, Anreicherung, Beachtung) anstelle von substantivierten Infinitiven (ändern, anreichern, beachten) ist inzwischen zur Gewohnheit geworden. Der Duden ist dabei behilflich. Vor 36 Jahren hat er in den "Haupt-schwierigkeiten der deutschen Sprache"(1965) die Erläuterungen zum Verbalsubstantiv mit dem einleitenden (zweideutigen) Satz begonnen: "Unter den zu Verben gebildeten Substantiven, die ein Geschehen bezeichnen, nehmen die Verbalsubstantive auf "-ung" eine besondere Stellung ein." Diese "besondere Stellung" hat sich inzwischen zu einem Bollwerk der Sprachverhunzung entwickelt, dessen Auffälligkeit nicht verhindern konnte, daß die über zwei Seiten verteilten und mit zahlreichen Beispielen ergänzten Darlegungen im neuen Band "Richtiges und gutes Deutsch" von 1997 fast wortgleich übernommen wurden. Das Bemühen, die Bedeutung und die Einsatz-möglichkeit des Verbalsubstantivs und der mit ihm konkurrierenden Wortform, dem substantivierten Infinitiv, dem Normalverbraucher klar zu machen, mag redlich sein. Einzelne Sätze und Abschnitte mögen auch in sich schlüssig lauten, insgesamt können sie jedoch keine klare Lehre zum Handeln, d. h. zum Schreiben und Sprechen geben. Der Rat Suchende bleibt am Ende der Erklärung ziemlich verwirrt zurück.
Laut Darlegungen in "Richtiges und gutes Deutsch" (1997) versteht man unter einem Verbalsubstantiv ein Substantiv, das von einem Verb abgeleitet worden ist und zunächst das im Verb ausgedrückte Geschehen bezeichnet. Zwei Seiten später wird jedoch erklärt, Der substantivierte Infinitiv, der dem Verb näher steht und gewöhnlich nur das Geschehen bezeichnet, ist jedoch dann vorzuziehen, wenn der Sprecher ein Geschehen (Vorgang, Tätigkeit, Handlung) ausdrücken möchte, das entsprechende Verbalsubstantiv auf "-ung" aber nicht nur das Geschehen, sondern auch den Abschluß oder das Ergebnis des Geschehens ausdrückt oder gleichzeitig Sachbezeichnung ist. Diese zwei Sätze sind für den Laien schwer verständlich und stehen auch im Widerspruch zu einander. Jedenfalls weiß der Leser danach nicht, wann er welche Wortbildung einsetzen soll. Ist es diese Unsicherheit oder die allgemeine Sprachschlamperei? Die Wortformen sind täglich zu lesen und zu hören; sie werden nach Lust und Laune, vielleicht auch nach Klang, ohne Rücksicht auf den Sachverhalt eingesetzt. Handlungsablauf und Handlungsergebnis, auch Handlungsziel können allenfalls noch aus dem Kontext mehr oder weniger mühsam abgeleitet werden.
Das Bedauern der Regellosigkeit wird nicht gerade durch den Hinweis im Duden auf Stilisten gemildert, die im "ung"-Stil eine Verunstaltung der deutschen Sprache sehen. Doch das gelte nur für den Fall, daß die Wörter mit der Endung "ung" zu häufig benutzt würden. Angeblich "haben diese Wortbildungen seit Jahrhunderten einen festen Platz in der deutschen Sprache und gehören heute (den oben genannten) Bedeutungsgruppen an, d. h. sie sind nicht nur Geschehensbezeichnungen, sondern bezeichnen auch den Abschluß oder das Ergebnis eines Geschehens oder sind zu Sach-, Raum, oder Personenbezeichnungen geworden" (Grammatik 1966). Ein Handlungsziel zu bezeichnen wurde offensichtlich nicht erwogen. Beim Zählen der Wörter muß die auffällige Zunahme der Wörter mit der Endung "-ung" in Wort und Schrift doch aufgefallen sein. Warum hat der Duden dann nicht wenigstens in der aktuellen Fassung der Wörterbücher die sachlichen Unterschiede der zwei Wortformen, (Verbalsubstantiv und substantivierter Infinitiv) klar und jeden Zweifel vermeidend herausgestellt? Im Gegenteil, die Verschleierung des Sachverhalts herrscht vor. Mit dem nach wie vor geltenden Satz "Grundsätzlich ist (auch) gegen die Geschehensbezeichnungen (durch das Verbalsubstantiv) nichts einzuwenden." ist das Tor zum Nivellieren der Sprache offen gehalten worden. Das bedeutet, die deutsche Sprache bietet zwar eine eigene Wortbildung für Geschehensbezeichnungen, sie darf jedoch mit der fast einer Empfehlung gleichkommenden Erlaubnis des Dudens ignoriert werden. Was wurde 1955 nach einem Treffen der Kultusminister der Bundesländer im Bundesanzeiger verkündet?
In Zweifelsfällen sind die im Duden gebrauchten Schreibweisen und Regeln verbindlich.
Sprachliche Narrenfreiheit, auch noch amtlich bestätigt.
Das Verbalsubstantiv hat den substantivierten Infinitiv geschluckt. Es spielt also nach Ansicht des Dudens keine Rolle, ob jemand bspw. vom Messen (= Handlung) eines Wertes und den dabei überwundenen Schwierigkeiten erzählt oder von der "Messung" als Ergebnis des Messens berichtet, die einen überraschenden Wert gebracht hat. Die zwei eben erörterten Wortformen sind nun im vom Duden beobachten "Sprachschatz" zu einem Wortbrei verrührt, der nicht dadurch weniger schwammig wird, daß der Duden lediglich aus stilistischen Gründen gegen das Anhäufen von Verbalsubstantiven auf "-ung" Bedenken hat, etwa in einem Satz wie
"Die Durchführung der Förderung der Forschung für die Verwirklichung der Steigerung der Fertigung ist in Ansehung der Entwicklung von Bedeutung."
Sätze mit einer Vielzahl dieser Wortbildungen stehen täglich in den Zeitungen. Fast jeder gedruckte oder gesprochene Satz der Umgangs- und Schriftsprache enthält mindestens ein falsch eingesetztes Verbalsubstantiv.
Teilweise läßt der Duden den Leser auch im Unklaren, ob er selbst den Unterschied zwischen den diskutierten Wortformen erkannt und verstanden hat. Heißt es bei ihm im Sinne ihrer Gleichstellung "Sieht man (u. a.) von Sätzen mit mehreren Verbalsubstantiven mit -ung ab, so gibt es keinen zwingenden Grund, den Gebrauch der Verbalsubstantive auf -ung zu tadeln und diese Bildungen durch substantivierte Infinitive zu ersetzen. Häufig wirkt gerade der substantivierte Infinitiv anstelle eines Verbalsubstantivs ungewöhnlich oder umständlich." Es klingt schon eigenartig. Zuerst empfiehlt der Duden, eine bestimmte Wortform nicht zu verwenden und dann stellt er fest, sie sei ungewöhnlich. Nach allgemeiner Lebenserfahrung gilt immer das als ungewöhnlich, was selten oder nicht im Gebrauch ist. Bei den im Dudenbeispiel angegebenen Formulierungen "die mechanische Bearbeitung" und "das mechanische Bearbeiten" des Holzes stört ihn offenbar mehr die ungewöhnliche (weil mit Dudenempfehlung selten benutzte) Fassung als daß ihm die sinnvolle Unterscheidungsmöglichkeit zwischen zwei grundverschiedenen Sachverhalten auffällt. Im ersten Fall liegt die Betonung auf dem Abschluß einer Arbeit (Handlungsergebnis, -ziel), sie liegt jetzt vor (bzw. ist erreicht) und kann beurteilt, kritisiert oder beanstandet werden. Sollte das Handlungsziel gemeint sein, wäre Platz für Tips und andere Informationen, die das Bearbeiten erleichtern können. Im zweiten, dem angeblich ungewöhnlich Fall, steht der Bearbeitungsvorgang des Holzes im Vordergrund (das Handeln), also Art, Schnelligkeit und andere Begleitumstände beim Bearbeiten. Analoge Überlegungen gelten für die weiteren Beispiele des Duden.
Noch einen Grund sieht der Duden in der Bevorzugung des Verbalsubstantivs: der substantivierte Infinitiv sei - bei reflexiven Verben - umständlich. Sein diesbezügliches Beispiel die Verständigung gegenüber das Sichverständigen weist mehr auf die Vorliebe für Sprachkosmetik hin als auf das Bestreben klar zu sprechen und zu schreiben. Auch hier gilt, was nicht benutzt wird, klingt fremd. Den Unterschied, ob jemand seine Angehörigen (von etwas) verständigt oder sich (mit ihnen) verständigt, berührt den Duden nicht. Analog kann Meldung aus melden oder sich melden abgeleitet sein.
Auch in seiner Pressemitteilung (PM) 1 ignoriert der Duden den Handlungsablauf. Die Angabe, es standen bei der "Neubearbeitung" (des Standardwerkes) Aktualisierung und optimale Benutzerfreundlichkeit an erster Stelle, wirft sofort die Fragen auf, stehen die genannten Motive auch jetzt noch dort, an erster Stelle der (vorliegenden) Neubearbeitung? Oder ist mit dem zitierten Satz gemeint, was zu erwarten wäre, die Motive waren schon vor Handlungsbeginn und vor allem während des Handelns wirksam? (Von einer angeblich inhaltlich und konzeptionell völlig neu bearbeiteten und erweiterten Auflage ist eigentlich zu erwarten, daß sie aktualisiert worden ist.) Der vom Duden verschmähte substantivierte Infinitiv (beim) Neubearbeiten würde den vermutlich gemeinten Sachverhalt treffen. In besserem Deutsch wäre kurz und prägnant zu schreiben: "Sie (die erweiterte Auflage) ist aktualisiert und bietet optimale Benutzerfreundlichkeit."
Ferner sind in der PM 1 (Abs. 2) die zwei genannten Wortbildungen ohne erkennbaren Grund kurz hintereinander für einen Handlungsablauf verwendet. So wird mit Nachschlagen (richtigerweise) der substantivierte Infinitiv, mit Umstieg dagegen das (falsche) Verbalsubstantiv eingesetzt. Zufällig oder zum Abwechseln?
Noch ein paar Beispiele, die zeigen, welche ungenutzten und vom Duden unbeachteten Möglichkeiten die deutsche Sprache bietet, um mit den unterschiedlichen Wortformen Sachverhalte klar zu kennzeichnen. Mit der Dudenfassung Er geht "zur Arbeit" kann gemeint sein, er geht um zu arbeiten, aber auch: er geht zu dem Ort, wo er arbeitet. Die andere Formulierung, Er geht "zum Arbeiten" beschreibt den Zweck des Gehens und läßt offen, wo die Arbeitsstelle liegt. In der gebräuchlichen Aussage "zur Arbeit" ist die Wahrheit versteckt. Sie muß aus dem Kontext ermittelt werden. Würden beide Versionen ihrem eigentlichen Sinn entsprechend benutzt, wäre die Aussage sofort klar. Das gilt auch für das folgende Beispiel: Der übliche Wortlaut Es wird über die Änderung des Gesetzes gesprochen erweckt den (falschen) Eindruck, das Ergebnis liege schon vor, die Änderung des Gesetzes sei schon beschlossene Sache und der neue Gesetzestext stehe nun im Mittelpunkt von Diskussion und Kritik. Gemeint ist meist jedoch das Ändern des Gesetzes, bestehend aus dem Erörtern von Notwendigkeit, Wortlaut, Annehmbarkeit, Folgen etc. der geplanten Änderung. Bei der Einrichtung der Wohnung zu helfen ist zwar löblich, jdoch schwer möglich, weil die Einrichtung der Wohnung in der Regel aus fertigen Gegenständen besteht, für die eine Hilfe nicht mehr notwendig ist. Es wird daher beim Einrichten der Wohnung geholfen. Helfen kann man beim Beschreiben (Bedienen, Arbeiten), nicht bei der Beschreibung (Bedienung, Arbeit). Prüfungsmethoden sind keine Methoden zur Prüfung, sondern zum Prüfen. Wer hat nun gepatzt, wenn geschrieben steht "Der Fehler lag bei der Bedienung"? Beim Bedienen der Maschine oder beim Personal?
Schließlich konnte die Erkenntnis, daß Verbalsubstantive auch häufig mit anderen Bedeutungen (Sach-, Raum- oder Personenbezeichnungen) belegt sind (Beschreibung, Verwaltung, Bevölkerung, Bildung, Kleidung), was Anlaß für weitere Mißverständnisse gibt, den Duden nicht dazu bewegen, sich für eine klare Unterscheidung der Wortformen einzusetzen.
Die traurige Bilanz der Dudenerklärungen zum Verbalsubstantiv: Das grund- und systemlose Verwenden der Verbalsubstantive, meistens auf ung endend, anstelle des substantivierten Infinitivs verschleiert, mindestens erschwert mangels Kenntnis ihrer Bedeutung im Text die Information. Es bewirkt auch optisch und klanglich eine Nivellierung der Sprache. Vor dem Verstehen eines Textes ist Kontextdeutung und Rätselraten angesagt, mit ungewissem Ergebnis.
Weitere Beispiele
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