Eine Diskussion
Die Diskussionsteilnehmer:
Ansgar Beckermann, Professor für Philosophie an der Universität Bielefeld,
Wolfgang Prinz, Direktor am Max-Planck-Institut für psychologische Forschung in München und
Gerhard Roth, Direktor am Institut für Hirnforschung in Bremen.
Die Diskussion wurde schriftlich geführt und erstreckte sich - zeitweise unterbrochen - über einen längeren Zeitraum.
Herr Beckermann, Sie sind Philosoph und haben in interdisziplinären Arbeitsgruppen mit Naturwissenschaftlern zusammengearbeitet. Wie sehen Sie diese massive Kritik von Herrn Roth?
Beckermann: Es fällt mir nicht leicht, angesichts dieses verbalen Rundumschlages mit der von Philosophen geforderten Gelassenheit zu antworten. Aber vielleicht dient es der Beruhigung, wenn ich Gerhard Roth zunächst in einem Punkt zustimme. Auch ich habe den Eindruck gewonnen, dass die Zusammenarbeit zwischen Philosophen und Naturwissenschaftlern in dem von Ihnen erwähnten DFG Schwerpunktprogramm nicht besonders fruchtbar war. Allerdings wäre ich etwas vorsichtiger mit einer Antwort auf die Frage, warum das so war. Naturwissenschaftler haben in gewisser Weise Recht, wenn sie sich in ihre alltägliche Forschung nicht hineinreden lassen. Hier zählt der Erfolg. Und interessante Forschungsergebnisse sind in der Regel Rechtfertigung genug. Auch wenn bei der Verwendung mancher Begriffe ("Die Fliege glaubt, dass sie von einem Windstoß gedreht wurde") dem Philosophen alle Haare zu Berge stehen, oder wenn Philosophen - meiner Meinung nach in einigen Fällen durchaus zu Recht - darauf hinweisen, dass die empirischen Daten weitreichende theoretische Interpretationen vielleicht gar nicht tragen.
Anders sieht es allerdings aus, wenn sich Naturwissenschaftler über den Kernbereich ihres Gebiets hinaus mit sehr allgemeinen Fragen beschäftigen und z.B. behaupten, die neurobiologische Lösung des Körper-Geist-Problems stehe unmittelbar bevor. In diesem Fall kann man, denke ich erwarten, dass sich Naturwissenschaftler zunächst einmal über den Stand der Diskussion in der Philosophie kundig machen. Denn die Philosophie hat inzwischen - im angelsächsischen Bereich mehr als im deutschen - sehr differenzierte Antworten auf die Fragen gefunden: Worin besteht das Körper-Geist-Problem überhaupt? Was sind die verschiedenen Facetten dieses Problems? Was würde als eine Lösung der Körper-Geist-Problems zählen? Wer sich über diese Antworten nicht informiert, der muss damit rechnen, von Philosophen kritisiert zu werden, er falle hinter den Stand der Diskussion zurück und sei sich über die Voraussetzungen und Implikationen seiner Thesen nicht im klaren. Damit ist nicht gesagt, dass Philosophen die Ergebnisse etwa der Neurowissenschaften für irrelevant halten. Häufig werden nur bestimmte Interpretationen dieser Ergebnisse nicht akzeptiert. Und, wie mir scheint, mit gutem Grund nicht akzeptiert. Denn wer z.B. behauptet, schon der Nachweis eines strengen psychophysischen Parallelismus bedeute eine Lösung des Körper-Geist-Problems, der übersieht einfach, dass die Annahme eines solchen Parallelismus mit vielen Spielarten des Dualismus durchaus vereinbar ist.
Um die Sache noch einmal pointiert zusammenzufassen: Meiner Erfahrung nach gibt es heute sehr viel mehr Philosophen, die in ihre Überlegungen zum Körper-Geist-Problem Ergebnisse empirischer Wissenschaften einbeziehen, als Naturwissenschaftler, die sich, wenn sie Thesen zur Lösung dieses Problems formulieren, erst einmal über den Stand der Debatte in der Philosophie informieren.
Herr Prinz, Sie sind Psychologe und haben am genannten DFG-Projekt mitgearbeitet. Uns geht es hier aber nicht um eine Aufrechnung dieses Projektes, sondern um die prinzipielle Frage nach der interdisziplinären Zusammenarbeit von Philosophen und Naturwissenschaftlern. Teilen Sie die kritische Sicht von Herrn Roth?
Prinz: Im Prinzip ja. Aber das muss nicht für alle Zeit so bleiben. Gegenwärtig erleben wir ja einen Boom, in dem sich namentlich Neurobiologen und Philosophen zusammentun, um den Zusammenhang zwischen Geist und Gehirn zu erklären. Ich fürchte allerdings, dass dieser Boom auf einem grandiosen Missverständnis darüber beruht, was von einem Dialog zwischen diesen beiden Wissenschaften überhaupt erwartet werden kann. Dieser Dialog lebt nämlich von der Illusion, dass beide Seiten von den gleichen Problemen reden. In Wahrheit aber spielen sie ganz unterschiedliche Spiele, die nach unterschiedlichen Regeln funktionieren. Das Spiel, das die Philosophen spielen, betrifft die Explikation mentaler Phänomene - eine begriffliche Klärung dessen, was sie eigentlich auszeichnet und was sie von den Dingen, die es sonst noch in der Welt gibt, unterscheidet. Qualia und Intentionalität sind Beispiele für Leitbegriffe, unter denen diese Debatte zur Zeit läuft. Das Spiel, das die Neurobiologen spielen, richtet sich dagegen auf eine funktionalistische Theorie des Gehirns: Wie bringt das Gehirn es fertig, das Verhalten seiner Träger so zu steuern, dass ihre fitness optimiert wird? Wie sind Anpassungsleistungen durch Verhalten möglich, und wie realisiert das Gehirn die kognitiven Leistungen, die diesen Verhaltensleistungen zugrunde liegen? Wie man sieht, kommt in der einen Forschungsagenda weder das Gehirn noch das Verhalten vor, die andere kennt weder Qualia noch Intentionalität. Wie sollten sie zusammenkommen? Und warum eigentlich auch?
Die Warum-Frage ist leicht zu beantworten: weil es gute Gründe für die Vermutung gibt, dass das Gehirn auf mysteriöse Weise alles gleichzeitig fabriziert: kognitive Leistungen und Verhalten, Intentionalität und Bewusstseinqualitäten. Unbeantwortet ist dagegen bisher die Wie-Frage. Ich kann die Richtung, in der ich eine Antwort suchen würde, hier nur andeuten. Was fehlt, sind intermediäre Beschreibungsebenen für die Tätigkeit des Gehirns - intermediär in dem Sinne, dass sie zwischen neuronalen Mechanismen einerseits und mentalen Erscheinungen andererseits vermitteln. Die Interpretation der Gehirntätigkeit als Informationsverarbeitung in einem teils parallelen, teils hierarchisch-sequentiell organisierten Repräsentationssystem ist ein Beispiel für eine derartige intermediäre Beschreibung - ein Beispiel, das weiterhilft, aber sicher noch nicht ausreicht. Was wir brauchen, ist eine Zwischenwissenschaft zwischen Neurobiologie und Philosophie. Einen wichtigen Teil dieser Aufgabe kann sicher die Psychologie mit ihren verschiedenen Verzweigungen übernehmen, zumal sie von Haus aus daran gewöhnt ist, in mehreren Zungen zu reden. Aber auch andere Disziplinen, wie z.B. Mathematik, Informatik und Systemtheorie müssen beitragen. Wie auch immer: Ohne eine derartige Vermittlungswissenschaft erscheint mir der derzeit so modische Dialog zwischen Philosophie und Neurobiologie aussichtslos.
Herr Beckermann schlägt vor, dass sich die Wissenschaftler jeweils über den Stand der jeweiligen Debatte in der Philosophie informierten. Wie sehen Sie das?
Prinz: Natürlich positiv, aber ich bin aus den genannten Gründen trotzdem skeptisch, wieviel dabei herausspringen kann. Herr Beckermann hat natürlich recht, wenn er beklagt, dass Neurobiologen und Psychologen überwiegend zu Dilettanten werden, wenn sie sich auf philosophischen Parcours begeben. Umgekehrt kann ich allerdings die vielen Philosophen nicht sehen, die in ihre Überlegungen zum Körper-Geist-Problem Ergebnisse empirischer Wissenschaften einbeziehen (jedenfalls im deutschen Sprachraum nicht). Allerdings glaube ich auch, wie gesagt, nicht, dass wir einer Klärung der Sachfragen dadurch näher kommen, dass Neurobiologen Philosophie lernen und Philosophen Neurobiologie. Beide sollen weiterhin ihr Spiel spielen - solange, bis eines Tages ein Team mit einem neuen Spiel auf den Plan tritt - ein Spiel, dessen Regeln es erlauben, mit beiden anderen Spielern zu spielen, die ihrerseits miteinander nicht spielen können. Wissenschaft kommt nicht dadurch vom Fleck, dass Menschen ihre Überzeugungen ändern, sondern dadurch, dass Menschen mit neuen Überzeugungen auf den Plan treten. Dass dies geschieht, wird um so wahrscheinlicher, je offenkundiger die Dialogversuche zwischen den beiden Lagern scheitern - und genau darin liegt vermutlich ihr dialektischer Gewinn.
Der Vorwurf, die Philosophen kennten die Forschungsergebnisse der jeweiligen Disziplin nicht bzw. würden diese nicht in ihre Arbeit einbeziehen - ist dieser Vorwurf gegenüber deutschsprachige Philosophen, die auf dem Gebiet der Philosophie des Geistes arbeiten, Ihren Erfahrungen zufolge berechtigt? Was halten Sie von Roths Forderung, Philosophen sollten vor einer Zusammenarbeit drei Jahre engen Kontakt zu Forschungslabors halten und sich einem von Naturwissenschaftern angeleiteten Literaturstudium unterziehen?
Beckermann: Es ist natürlich richtig, dass es gerade im deutschen Sprachraum eine ganze Reihe von traditionellen Philosophen gibt, die aus prinzipiellen Gründen glauben, dass Ergebnisse empirischer Wissenschaften zur Lösung des LeibSeele-Problems nichts beitragen können. Aber diese waren an dem von Gerhard Roth angesprochenen Schwerpunktprogramm der DFG gar nicht beteiligt. Wir können sie hier also einfach außer acht lassen. Und dies um so mehr, als auch in der deutschsprachigen Philosophie die Zahl der - an der angelsächsischen Philosophie orientierten - Philosophinnen und Philosophen ständig wächst, die dies ganz anders sehen und die wissen, dass sie zur Lösung einiger philosophischer Fragen auf die Ergebnisse der Naturwissenschaften geradezu angewiesen sind. Trotzdem ist Roths Forderung, Philosophen müssten vor jeder interdisziplinären Zusammenarbeit zunächst ein dreijähriges "Aufbaustudium" in einem neurowissenschaftlichen Labor absolvieren, natürlich völlig überzogen. Für eine solche Zusammenarbeit sind die vielen Details, die man auf diese Weise lernen kann, in der Regel gar nicht relevant. Und die wesentlichen Grundzüge kann man sich auch sehr viel schneller aneignen. Aber diesen Aufwand muss man in der Tat auf sich nehmen. Wer nicht einmal im Prinzip über den Stand der neurowissenschaftlichen Forschung Bescheid weiß, der hat in einem interdisziplinären Projekt nichts verloren. Allerdings gilt das natürlich auch umgekehrt. Neurobiologen, die nicht einmal im Prinzip über den Stand der philosophischen Diskussion des Leib-Seele-Problems informiert sind, sind für eine interdisziplinäre Zusammenarbeit ebenfalls ungeeignet. Auch dafür ist jedoch kein dreijähriges Philosophiestudium vonnöten. Es reicht, wenn man ein gutes Buch, in dem der Stand der Diskussion dargestellt wird, gelesen (und verstanden) hat.
Vorausgesetzt, die Philosophen hätten sich in die Grundlagen der entsprechenden Naturwissenschaften und umgekehrt, die Naturwissenschaftler sich über den Stand der Debatte in der Philosophie informiert: wie könnte eine befriedigende Zusammenarbeit etwa beim Problemkreis Geist-Gehirn aussehen?
Beckermann: Hier möchte ich zunächst einmal der Auffassung von Wolfgang Prinz widersprechen, dass eine Zusammenarbeit zwischen Philosophen und Neurobiologen schon deshalb keinen Sinn hat, weil beide an ganz verschiedenen Problemen interessiert sind, weil sie, wie Prinz sagt, "ganz unterschiedliche Spiele spielen". Auf der einen Seite geht es Philosophen keineswegs nur um begriffliche Klärung. Sie wollen nicht nur wissen, was die wesentlichen Kennzeichen des Mentalen sind; sie wollen auch wissen, ob - und wenn ja, wie - mentale Phänomene durch neuronale Phänomene realisiert sind. Und genau an dieser Stelle kommt das philosophische Interesse an den Ergebnissen der Neurobiologie ins Spiel. Denn die letzte Frage kann man nur beantworten, wenn man weiß, wie das Gehirn tatsächlich funktioniert. Auf der anderen Seite scheint mir auch nicht richtig, dass sich Neurobiologen allein dafür interessieren, wie es das Gehirn schafft, das Verhalten seiner Träger optimal zu steuern. Es gibt neurobiologische Theorien der Wahrnehmung und des Gedächtnisses, und es gibt neuerdings auch viele neurobiologische Versuche, Bewusstsein zu erklären. Damit komme ich zu Ihrer Frage.
Ich glaube, dass eine befriedigende Zusammenarbeit zwischen Philosophen und Neurobiologen zu allererst voraussetzt, dass man die jeweiligen Fragestellungen kennt und respektiert. Der Philosoph nähert sich der Neurobiologie, wie gesagt, um zu erfahren, ob es in dieser Wissenschaft Ergebnisse gibt, die ihn einer Antwort auf die Frage näher bringen, ob mentale Phänomene neuronal realisiert sind. Ein Neurobiologe, der sich auf diesen Dialog einlässt, soll also bereit sein zu fragen "Was genau wollt ihr wissen?", um dann aufgrund seiner Kenntnisse zu helfen, den Philosophen mit dem nötigen Faktenwissen zu versorgen. Soweit ist das Interesse durchaus einseitig. Der Philosoph hat eine Frage, und der Neurobiologe hilft ihm, eine Antwort auf diese Frage zu finden. In seiner konkreten neurobiologischen Arbeit bringt ihn das möglicherweise kein Stück weiter. Aber das Interesse muss nicht einseitig bleiben. Wenn der Neurobiologe an der Erklärung von Wahrnehmung, Kognition oder Bewusstsein interessiert ist, dann kann ihm der Philosoph ebenfalls helfen. Bei jeder Erklärung muss erstens klar sein, was überhaupt erklärt werden soll, und Philosophen haben durchaus Antworten auf die Frage, was Wahrnehmung, Kognition oder Bewusstsein ist. Und jede Erklärung setzt zweitens voraus, dass klar ist, was eigentlich als eine Erklärung zählt. Auch für diese Frage haben Philosophen Antworten entwickelt.
Um ein Beispiel zu nennen. Im Augenblick wird unter dem Stichwort "binding problem" viel über die Rolle diskutiert, die die zeitliche Synchronisation neuronaler Aktivitäten bei der Erklärung von Bewusstsein spielen kann. Ich denke, dass Philosophen durchaus hilfreich sein können, wenn es darum geht, herauszufinden, was mit diesem Phänomen erklärt werden kann und was nicht.
Roth: Seit dem Ende des DFG-Schwerpunktprogramms "Kognition und Gehirn", dessen schwieriger Verlauf die vorliegende Diskussion ausgelöst hat, hat sich vieles getan, was die Zusammenarbeit von Neurobiologie/Hirnforschung, Philosophie und Psychologie betrifft. Interessant dabei ist, dass diese neue Entwicklung in wesentlichem Maße von den damaligen Koordinatoren von "Kognition und Gehirn" bestimmt wurde, nämlich von Prof. Beckermann, Prof. Prinz und mir bzw. von ehemaligen Mitarbeitern und jetzigen Kollegen. Ein wichtiger Schritt in Richtung auf eine engere Zusammenarbeit zwischen kognitiven Neurowissenschaftlern und kognitiven Psychologen und Handlungspsychologen war die von W. Prinz und mir initiierte Gründung eines weiteren DFG-Schwerpunktprogramms "Sensomotorische Integration", in denen - überwiegend jüngere - Vertreter der beiden Disziplinen hinsichtlich der Frage, wie Wahrnehmung in Verhalten umgesetzt wird und Verhalten Wahrnehmung beeinflusst, experimentell und theoretisch arbeiten, demnächst sogar in gemeinsamen Projekten. Parallel hierzu finden in verschiedenen anderen Förderprogrammen, z.B. im DFG-Sonderforschungsbereich Bremen-Oldenburg "Neuronale Grundlagen kognitiver Leistungen" wie auch in anderen SFBs, enge Kooperationen zwischen kognitiven Neurobiologen und kognitiven Psychologen statt. Diese Entwicklung wird weiter verstärkt durch die Einrichtung einer Reihe von Lehrstühlen für Neuropsychologie an deutschen Universitäten; entsprechend kommt es dort zu Gründungen von interdisziplinären Hauptstudiengängen und Graduiertenkollegs im Bereich der kognitiven Neurowissenschaften ("Cognitive Neuroscience").
Die Philosophie als nicht-empirisch arbeitende Disziplin hat es schwer, sich in diesen rasant beschleunigenden Prozess des Zusammenwachsens der genannten beiden Disziplinen einzuklinken. Hier kam die Gründung des Hanse-Wissenschaftskollegs - einer Stiftung privaten Rechts der Länder Niedersachsen und Bremen mit dem Sitz in Delmenhorst - zu Hilfe, zu dessen Gründungsrektor ich vor zwei Jahren berufen wurde. Eines von drei Gebieten, auf denen das HWK tätig ist, sind die Neuro- und Kognitionswissenschaften, diesmal mit Einschluss der Philosophie. Es hat sich seit Beginn der Arbeit des HWK im vorigen Jahr eine engere Zusammenarbeit zwischen Wolfgang Prinz, Ansgar Beckermann und mir und einer Reihe von jüngeren Kollegen aus den drei von uns vertretenen Disziplinen ergeben. Der erste "Fellow" des HWK überhaupt war der Neurophilosoph Dr. Thomas Metzinger, der auch längerfristig am HWK tätig sein wird. Die erste vom HWK durchgeführte Tagung wurde im Sommer vorigen Jahres zum Thema "Animal Mind" durchgeführt, an dem Neurobiologen, Evolutionsbiologen, Psychologen und Philosophen aus aller Welt teilnahmen. Im Juni dieses Jahres fand in Bremen die große Tagung "Neural Correlates of Consciousness" statt, die Thomas Metzinger im Auftrag des Hanse-Wissenschaftskollegs und der International Society for the Study of Consciousness organisierte und die allgemein als sehr erfolgreich angesehen wurde, insbesondere was die Verständigung zwischen kognitiver Neurobiologie und Neurophilosophie betrifft. Schließlich fand kürzlich am HWK ein Tagung zum Begriff der Emergenz statt, die von den Neurophilosophen Achim Stephan und Michael Pauen, zwei Fellows am HWK, organisiert wurde und an der - ebenso wie an der vorigen - Prof. Beckermann wichtigen Anteil hatte. Diese Zusammenarbeit zwischen den drei Disziplinen soll am HWK in mehreren län-gerfristigen Projekten noch enger gestaltet werden, die unter dem Dachthema "Determinanten menschlichen Verhaltens" laufen. Ein Teilprojekt wird "Empirische und philosophische Bewusstseinsforschung" heißen. Zusammen mit der Deutschen Forschungsgemeinschaft veranstaltet das HWK eine Serie von internationalen Konferenzen mit dem Gesamtthema "Natur und Geist", an denen unter anderem wiederum Psychologen, Neurobiologen und Philosophen beteiligt sein werden.
Diese kurze Darstellung soll zeigen, dass aus der damaligen, z.T. sehr kontroversen Diskussion durchaus etwas sehr Fruchtbares erwächst und erwachsen wird, indem sich die Beteiligten ohne jede Scheu auf eine langfristige und zugleich konkret fokussierte Interaktion einlassen, um voneinander zu lernen. Die am Hanse-Wissenschaftskolleg tätigen Philosophen-Fellows haben ein Jahr lang Gelegenheit, sich mit der Arbeitsweise der Neurobiologen und Kognitionspsychologen intensiv vertraut zu machen, und stehen umgekehrt den Empirikern zur ebenso intensiven Diskussion zur Verfügung. Dieses tiefere gegenseitige Verständnis benötigt viel Zeit; ist es aber einmal erreicht, so zeigt sich überraschenderweise ein hohes Maß an Übereinstimmung. Es hat sich bei den genannten Tagungen gezeigt, dass dasjenige, worüber man als Philosoph mit den kognitiven Psychologen und Neurobiologen überhaupt noch sinnvoll streiten kann, sich in einem schmalen Bereich von Fragen bewegt, welche die Reduzierbarkeit oder Nichtreduzierbarkeit subjektiven Erlebens auf Gehirnprozesse betrifft. Die beteiligten Philosophen haben sich hierbei ein ganz erstaunliches Maß an neurobiologischem und psychologischem Fachwissen angeeignet. Die eigentlichen Defizite liegen nunmehr eher auf der Vermittlung neurophilosophischer und erkenntnistheoretischer Konzepte an die Neurobiologen und Psychologen, - ein viel schwierigeres Unterfangen.
Ich denke nicht, dass bei der ganzen Unternehmung der drei beteiligten Disziplinen jeder von uns strikt "bei seinen Leisten" bleiben sollte, wie es Wolfgang Prinz vorschlug. Natürlich muss jeder von uns primär seine wissenschaftliche Tagesarbeit leisten, und zwar im nationalen und internationalen Rahmen so gut wie möglich. Nichts wäre schlimmer, als wenn die angestrebte interdisziplinäre Zusammenarbeit von zweit- oder drittklassigen Vertretern der Disziplinen bewerkstelligt würde. Nicht zu Unrecht wurden manche "interdisziplinär" ausgelegte Tagungen mit dem bissigen Kommentar versehen, dass nur solche Wissenschaftler daran teilnahmen, die in ihren eigen Labors nichts oder nichts mehr zu sagen und zu tun hätten. Gleichzeitig steht aber außer Frage, dass die heute anstehenden Kernfragen nicht ohne Neurobiologen, Psychologen und die Philosophen gemeinsam angegangen werden können: Wer oder was steuert unser Verhalten? Wer oder Was bin/ist Ich? Wie entsteht das Ich? Welche Funktion hat Bewusstsein und in welchem Verhältnis steht es zum Unbewussten? Gibt es einen freien Willen? Wie und in welchem Rahmen kann menschliches Verhalten gezielt verändert werden? Dürfen wir überhaupt so etwas anstreben? Fraglos wird die Beantwortung oder auch nur die weitere Untersuchung dieser Fragen unser traditionelles Menschenbild grundlegend verändern.
Es ist für mich klar, dass die Philosophie bei vielen konkreten Fragen gegenüber den empirischen Wissenschaften eine eher helfende und begleitende Funktion haben wird, indem sie den historischen Diskussionsstand vermittelt und die gegenwärtigen empirischen Erklärungsansätze kritisch durchleuchtet, - immer ein hohes Maß an Fachwissen bei den Philosophen vorausgesetzt. Bei der Frage nach den individuellen und gesellschaftlichen Konsequenzen der Erforschung der "Determinanten menschlichen Verhaltens" durch die empirischen Wissenschaften wird die Philosophie dagegen führend beteiligt sein und sein müssen. Hier liegt die größte und vielleicht auch letzte große Chance der Philosophie, wenn sie nicht zu einer rein historischen Disziplin verkommen will. Es scheint allerdings, dass erst noch zu wenige Philosophen dies erkannt haben.
Ich möchte auf dieses "binding problem" zurückkommen. Können Sie dies näher erläutern und dabei insbesondere auch auf das eingehen, was die Philosophen bei dessen Diskussion einbringen können?
Beckermann: Zunächst möchte ich kurz anmerken, dass ich mich natürlich freue, wenn Gerhard Roth die Möglichkeit einer Zusammenarbeit zwischen Neurobiologen, Psychologen und Philosophen inzwischen wieder positiver einschätzt. Aber noch einmal: Eine fruchtbare Zusammenarbeit setzt voraus, dass man die jeweiligen Fragestellungen kennt und respektiert.
Nun zu Ihrer Frage. Lassen Sie mich kurz erläutern, worum es meinem Verständnis nach beim "binding problem" geht. Wenn sich in meinem visuellen Feld ein roter Kreis und ein grünes Quadrat befinden, dann werden - nach allem, was man heute weiß - die Merkmale dieser Dinge im Gehirn hochgradig parallel und distributiv verarbeitet: Farbe in einem Teil des visuellen Kortex, Form in einem anderen. Wenn das so ist, warum sehen wir dann aber einen roten Kreis und ein grünes Quadrat und nicht einen grünen Kreis und ein rotes Quadrat oder sogar nur etwas Rotes, etwas Grünes, etwas Kreisförmiges und etwas Quadratisches? Irgendwie muss es das Gehirn schaffen, die Repräsentationen der Merkmale Rot und Kreis bzw. die Repräsentationen der Merkmale Grün und Quadrat zusammenzubinden. Aber wie? Eine besonders auch auf Arbeiten deutscher Neurobiologen beruhende Antwort lautet: Wenn man davon ausgeht, dass die Merkmale Rot, Kreis, Grün und Quadrat jeweils durch das Feuern bestimmter Neuronen repräsentiert sind, dann können die Repräsentationen der Merkmale Rot und Kreis bzw. der Merkmale Grün und Quadrat z.B. dadurch zusammengebunden werden, dass die Neuronen, die die Merkmale Rot und Kreis repräsentieren, synchron feuern und dass auch die Neuronen, die die Merkmale Grün und Quadrat repräsentieren, synchron feuern - jedoch jeweils mit unterschiedlichen Phasen. Auf jeden Fall scheint das synchrone Feuern unterschiedlicher Neuronenverbände im Gehirn inzwischen auch empirisch gut belegt.
Der Philosoph kommt nun da ins Spiel, wo es um die Frage geht, was eigentlich erklärt ist, wenn die gerade skizzierte Theorie zutrifft. Dies ist deshalb besonders wichtig, weil in der letzten Zeit häufig zu hören war, dass man mit Hilfe der Annahme des synchronen Feuerns unterschiedlicher Neuronenverbände vielleicht das gesamte sogenannte Bewusstseinsproblem lösen könne. Gegenüber solch weitreichenden Interpretationen wird der Philosoph erstens darauf bestehen, dass es das Bewusstseinsproblem gar nicht gibt, dass vielmehr mit dem Phänomen Bewusstsein eine ganze Reihe höchst unterschiedlicher Probleme verbunden sind. Und dann wird er zweitens fragen, für welche dieser Probleme die Synchronisationsannahme möglicherweise relevant ist. Vermutlich wird sich dabei ergeben, dass man mit Hilfe dieser Annahme bestimmte Fragen beantworten kann, die für die Informationsverarbeitung im Gehirn von großer Bedeutung sind, dass diese Annahme aber z.B. nichts beiträgt zur Erklärung phänomenalen Bewusstseins, dass sich mit dieser Annahme also nicht erklären lässt, warum es sich auf eine jeweils spezifische Weise anfühlt, etwas Rotes zu sehen, ein schrilles Geräusch zu hören oder Übelkeit zu empfinden.
"Empirische Erklärungsansätze kritisch durchleuchten" nennen Sie eine der möglichen Aufgaben der Philosophie. Herr Beckermann geht aber hier noch etwas weiter, indem er überzogene Deutungen dieser Ansätze kritisiert. Einen ähnlichen Vorschlag hat kürzlich der von Ihnen genannte Thomas Metzinger gemacht und eine kritische Philosophie gefordert: "Eine Gefahr besteht nämlich darin, dass Neurowissenschaftler, ohne die geringste Ahnung von Philosophie zu haben, öffentlichkeitswirksame Parolen verbreiten, wie: Willensfreiheit gibt es nicht". Kann nicht hier eine philosophische Kritik sehr wichtig sein - beim binding problem und beim Problem der Willensfreiheit?
Roth: Für mich stellt sich die Zusammenarbeit zwischen Philosophen und Neurobiologen trotz vieler Anstrengungen nach wie vor problematisch dar. Sehr positiv ist, dass sich im deutschsprachigen Raum einige wenige Philosophen, zu denen in meinen Augen vor allem Prof. Ansgar Beckermann, PD Dr. Metzinger und PD Dr. Pauen zählen, sich intensiv auf die Datenlage und Methodik der Hirnforschung hinsichtlich der neuronalen Grundlagen kognitiv geistiger Leistungen und insbesondere des Bewusstseins eingelassen haben. Die Diskussion mit diesen Kollegen ist fruchtbar, auch wenn sie vielleicht nichts direkt zum Erkenntnisfortschritt hinsichtlich Geist-Gehirn beiträgt. Immerhin hat sie die wichtige Funktion, vorschnelle ontologisch-reduktionistische bzw. eliminative Lösungsansätze kritisch zu beleuchten. Ich denke, das Reduktionsproblem in den Neurowissenschaften ist noch lange nicht ausdiskutiert. Die große Mehrheit der mir bekannten Philosophen (auch englischsprachiger) zieht sich angesichts der Fortschritte in der neurobiologischen Untersuchung sehr komplexer bewusster Akte (Erwartung, Meinen, Glauben usw.) in die Qualia-Debatte zurück mit der Aussage, das subjektive Empfinden werde man neurobiologisch nie ergründen können. Das ist zum Teil nicht richtig (man kann Selbstberichte beliebig subtil machen und deren Inhalte dann mit Hirnzuständen zu korrelieren versuchen), zum Teil ist dieser Standpunkt tautologisch, da er immer das als "eigentliches Geist-Gehirn-Problem" definiert, was nicht von den Neurowissenschaften analysiert werden kann. Ein solcher Standpunkt ist unfruchtbar und tötet jedes interdisziplinäre Gespräch.
Ich will dies an einer kleinen Begebenheit erläutern. Bei der Abschlussdiskusion einer internationalen und interdisziplinären Tagung über Gehirn und Bewusstsein vor einigen Monaten am Hanse-Wissenschaftskolleg entwarf ich das Szenario, dass es irgendwann einmal gelingen sollte, mit den verschiedensten Methoden die Vorgänge im Gehirn von der zellulären Ebene bis hin zu den global verteilten Geschehnissen in unterschiedlichen Hirnteilen zu verfolgen und sie mithilfe von Selbstberichten zeitlich genau mit bewussten geistigen Akten und deren Inhalten in Beziehung zu setzen, d.h. zu jeder Nuance eines Gedankens ein Hirnkorrelat gegenüberzustellen. Ausserdem sollte es in diesem - nicht völlig unrealistischen - Szenario möglich sein, per Hirnstimulation die Inhalte dieser Akte vorzugeben und damit zu zeigen, dass die geistigen Akte auf die Hirnstimulation in vorhersagbarer Weise folgen.
Meine Frage an die anwesenden sehr renommierten Philosophen war: Ist dann damit das Geist-Gehirn-Problem neurobiologisch und philosophisch gelöst? Während einige wenige (Metzinger, Pauen, einige Amerikaner) "ja" bzw. "so ziemlich" sagten, meinte die Mehrheit: "Wenn ihr Hirnforscher das alles so wirklich hingekriegt habt, dann ist das prima, aber damit habt Ihr gar nichts gelöst! Die wahre philosophische Bearbeitung des Geist-Gehirn-Problems fängt dann überhaupt erst an!" Es folgte wieder der Hinweis auf das subjektive Erleben von Bewusstsein als einem unübersteigbaren Rätsel.
Ich denke, eine solche Haltung muss man als Hirnforscher nicht einfach hinnehmen und sich nicht weiter darum kümmern, denn sie trägt zu der Frage, wie Bewusstsein im Hirn entsteht, welche Hirnteile (und deren Aktivität) für das subjektive Erleben zuständig sind, und welche Funktion(en) Bewusstsein hat, nichts bei. Dies ist inzwischen eine empirische Frage.
Gehirn vs. Geist: Die Neurowissenschaft-Debatte
Über Gerhard Roths Kritik an den Philosophen
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