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Gehirn - Geist / Artikel Übersicht / 98. K-Stellungnahme zu
 

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Stellungnahme zu "Neuronale Determiniertheit und Freiheit" 
 von Ansgar Beckermann in Information Philosophie 2/2005 S. 7-18

 

von Ingo-Wolf Kittel   

In unserer Fähigkeit, "innezuhalten und zu überlegen ... scheint mir die Quelle aller Freiheit zu liegen", zitiert Beckermann John Locke. Leider führt er nicht aus, ob Locke seinem Eindruck auf den Grund gegangen ist. Der Schein könnte ja auch trügen und Überlegen selbst schon Ausfluss oder Ausdruck von Freiheit sein. Immerhin ist nicht zu übersehen, dass wir uns durch Innehalten von nichts frei machen, sondern nur eine Handlung beenden, um eine andere zu beginnen, und sei es nur die still zu halten. Was aber Überlegen als eine festliegende Form des Denkens – gleich einem Walzer als einer 'bestimmten' Art des Tanzens – mit Freiheit zu tun haben könnte, ist auf den ersten Blick auch nicht zu sehen. Indirekt wird dies erst erkennbar, wenn man der Frage nachgeht, warum Freiheit gerade darin zum Ausdruck kommen soll, dass man seine Überlegungen unter Berücksichtigung von relevanten Umständen, Erfahrungen und absehbaren Folgen, Maßstäben und Vereinbarungen auf Zwecke und Ziele ausrichten, ja ein solcherart an Vernunft (von 'vernehmen'... ) gebundenes oder auf sie festgelegtes Überlegen eigens fordern und einüben muss: einen Hund kettet man an, wenn er nicht mehr frei rumlaufen soll.

Beckermann dagegen taucht tief in hirnphysiologische Spekulationen und aus ihnen mit der "Meinung" wieder auf, "alles"[!] spreche "dafür, dass bestimmte neuronale Prozesse Prozesse des Überlegens sind, die für Gründe und Argumente empfänglich sind." Abgesehen von der zauberhaften creatio ex cerebro einer 'empfänglichen' Tätigkeit wie der eines für Gründe etc. 'empfänglichen Überlegens', ist zu fragen, ob der Autor Überlegungen mit neuronalen Vorgängen identifiziert, die im Hirn ablaufen, wenn wir überlegen. Nach derselben Sprachkonstruktion wären beispielsweise 'bestimmte' muskuläre Prozesse Prozesse des Walzertanzens, die Signale von Hirnneuronen empfangen würden, die ihrerseits für Tonfolgen und Rhythmus empfänglich sein müssten.

Philosophie gewänne mit Übernahme solch technomorphen pseudopsychologischen Neurojargons Kabarettreife. Nüchterne Experten wie Max R. Bennett und Peter M. S. Hacker tun diesen Jargon in ihrem Lehrbuchs Philosophical Foundations of Neuroscience (Oxford 2003) nüchtern ab und erklären ihn britisch-trocken zu nonsens.

John Locke scheint mir dagegen immerhin in den Blick bekommen zu haben, was heutzutage schon der Volksmund unsere Gedankenfreiheit nennt. Damit ist die bis in den Essay von Ansgar Beckermann erkennbare 'Tat'-Sache gemeint, dass wir denken können, was und wie es uns beliebt, nach Gutdünken also oder nicht, und dass wir dabei in unbegrenzt scheinendem Ausmaß Gedanken und Vorstellungen variieren und genau deswegen auch selbst bestimmen können, was und wie wir denken, auch wenn wir wie Kinder 'mit Gedanken spielen' und dabei dies und jenes dabei durcheinander werfen oder gar 'alles auf den Kopf stellen'. Die Frage ist, worauf diese Fähigkeit beruht, die sich während der individuellen Entwicklung eines Menschen spätestens im Kindergartenalter in den ersten Ansätzen zeigt, und wegen der es kinderleicht ist, sich alles mögliche auszudenken und 'frei zu phantasieren'. Philosophische Reflexionen wie die von Beckermann, scheinen hier nicht weiterzuhelfen, umso mehr aber einige psychologische Hinweise.

Überlegen besteht wie unser gesamtes Denken und Phantasieren bis hin zu jenem, das jeder in Form von nächtlichen und Tagträumen sowie als 'Einfälle' kennt (das aber auch noch in vielen anderen Formen möglich ist...), genau genommen in einem – 'spontanen', also reflexhaft oder 'automatisch' zustande kommenden oder aber absichtlichen und dann mehr oder weniger selbst bestimmten und kontrollierten – Variieren oder Kombinieren von Einzelheiten erinnerter Wahrnehmungen. Denken und Erinnern ist mithin dieselbe Tätigkeit. Für beides kann man in der Umgangssprache unabhängig von Einzelheiten 'vorstellen' und 'vergegenwärtigen' sagen, und meinen wir mit dem Ausdruck 'an etwas denken' oft auch erinnern, mit dem Begriff 'Gedächtnis' sogar immer unsere Erinnerungsfähigkeit.

Erinnern selbst besteht darin, einst reale Wahrnehmungen zu imitieren (nach Dirk Hartmann in: Philosophische Grundlagen der Psychologie, Darmstadt 1998), und damit schlicht darin, sie irgendwie nachzumachen, also nachträglich noch einmal zu 'machen', sie 'einfach' zu wiederholen. Wir können uns deswegen beliebig oft erinnern, ungewollt oder gewollt; mehr als 'Zeit brauchen' wir dazu nicht. (Die Umgangssprache ist hier von einer genialen Treffsicherheit und lässt auch dies erkennen: 'Erinnerungen' sind zeitweise Aktivitäten! Wir beginnen sie, und wir beenden sich auch, wobei wir sie 'mit' unserem Hirn ausführen wie wir 'mit' unseren Händen winken und noch vieles anderes machen, auch mit manch anderem 'Werk-Zeug' oder 'Organ'. Erinnerungen 'im' Gehirn zu suchen und dabei 'in' Zahl, Verteilung und Ausbildungsgrad von Synapsen zu vermuten, ist deswegen ähnlich sinnvoll wie Walzerschritte 'in' unseren Muskeln zu 'verorten' und deren Trainingszustand wie etwa Masse und Durchblutungsgrad zur 'Erklärung' dieses Tanzes und seiner Ausführung heranzuziehen.)

Wesentlich für Erinnerungen ist der Umstand, dass sie nicht mehr mit denselben und vor allem nicht denselben 'äußeren' Gegebenheiten in Zusammenhang stehen wie die ursprünglichen Wahrnehmungen bzw. Erlebnisse, 'an' die man sich erinnert bzw. denkt. Erinnern selbst 'tun' wir nach aller Selbstwahrnehmung eindeutig und ausschließlich 'innerlich', genauer 'im Kopf', wofür die Umgangssprache mit derselben Bedeutung weitere in beliebter Raummetaphorik formulierte Ausdrücke bereithält wie 'in der Vorstellung', 'im Denken' oder 'in Gedanken' und 'im Gedächtnis', auch 'in der Rückschau' oder gar 'im Geist'! Erinnern ist damit eine reine Eigenleistung von uns, die wir deswegen – auf welchem Anlass hin auch immer, der auch ein persönlicher Entschluss sein kann – immer auch von uns aus beginnen und, weil ausschließlich von uns abhängig, mehr oder weniger auch selbst steuern können, wie geschickt dann jemand persönlich 'lernt', diese Möglichkeit wahrzunehmen und zu nutzen, und die Fähigkeit oder Fertigkeit ausbildet, mit dieser Möglichkeit umzugehen, womit wir weiter nichts meinen als im Umgehen mir ihr hinreichend oder genügend 'geübt sein'. (So wie wir auch mit 'Wissen' lediglich ein Kennen meinen, das in der Fähigkeit besteht, etwas jederzeit [wiederzu]erkennen und identifizieren zu können, so dass auch wissen eine Aktivität ist, zu der wir, wenn wir in ihr geübt sind, verkürzt auch sagen, dass wir 'über Wissen verfügen', aber recht besehen nur meinen, dass wir über 'die Fähigkeit verfügen' zu wissen!)

Von entscheidender Bedeutung ist nun der Umstand, dass Erinnern immer oder 'grundsätzlich' unter anderen Bedingungen stattfindet als zu denen, die zur Zeit des ursprünglichen Erlebnisses herrschten, 'an' das wir denken. Einzelerinnerungen sind damit ihrer Natur nach und von Natur aus von den ursprünglich realen äußeren Bedingungen unabhängig. Die Folgen sind vielfältig. Beispielsweise sind daher alle Arten von Erinnerungstäuschungen möglich, wenn unbemerkt oder 'unbewusst' Veränderungen beim Erinnern vorkommen. Eben deswegen ist es 'andererseits' erforderlich wenn nicht sogar nötig, sein für alle 'möglichen' Variationen offenes, sich natürlicherweise nur entlang von Ähnlichkeiten locker-assoziativ organisierendes Erinnern und sein darauf beruhendes und jeder persönlichen Willkür zugängliche Denken sowie sein damit zusammenhängendes Verhalten an wenigstens praktisch relevanten Umständen 'auszurichten' und ständig zu überprüfen.

Es ist etablierte Redeweise zu sagen, dass wir beim Denken 'frei' sind. Auch die üblich gewordenen substantivierte Form 'Freiheit' ist nur ein Wort. Blanker Begriffsrealismus wäre es, der leider Tradition hat, hierunter etwas "an und für sich Seiendes" mit Eigenschaften oder gar Fähigkeiten zu verstehen, wegen denen dieses dann als Substanz vorgestelltes und als Zeichen dafür großgeschriebene Wort "Freiheit" von sich aus irgendetwas tun und vor allem bewirken könnte. Wie alle Wörter bezeichnet es oder 'meint' der Begriff Freiheit lediglich 'etwas', in diesem Fall ein real bestehendes und anthropologisch zentral bedeutsames Bedingungsgefüge, wegen dem w i r als Menschen 'alles (uns) mögliche' denken können, was uns weiterhin auch ermöglicht, das eigene Tun bis hin zu umsichtigem Planen denkend vorzubereiten: durch Analysieren, Entwerfen und Planen, Erwägen, Werten und Gewichten, Abwägen und Auswählen verschiedenster Reaktionsmöglichkeiten, an die wir uns erinnern oder die wir uns 'ausdenken'.

In einer Psychologie der Freiheit oder Handlungstheorie wäre darzustellen, welche Einzelheiten dabei eine Rolle spielen, bis wir in eigenen Entscheidungen festlegen, was wir auf sie hin 'in die Tat' umsetzen und bei unserem davon abhängig gemachten Handeln berücksichtigen, wodurch wir Überlegungen und Entscheidungen erst 'wirksam machen'. Es ist interessant, kann aber hier nicht verfolgt werden, dass das Verb 'wollen' oder dessen substantivierte Sprachform 'mein Wille' zur Bezeichnung dafür, dass wir uns für etwas entschieden und damit darauf festgelegt haben sowie außerdem an diesem Entschluss auch weiterhin festhalten, etymologisch mit 'Wolf', 'wählen' und 'wohl' in Zusammenhang steht und zurückgeht auf ein indogermanisches Wurzelwort mit der Bedeutung 'an sich reißen': etwas, worauf man sich vorher 'gerichtet' hat, indem man es 'ins Auge gefasst' und dann 'absichtlich' und 'gezielt' verfolgt hat, bis man es erreicht hat...

Und auch auf folgendes verweist John Locke: unserer Freiheit können wir uns 'in der Tat' (tatsächlich...) besonders leicht am Beispiel unseres Denkens inne werden, vor allem wenn wir durch Irrtümer 'mit der Nase drauf gestoßen' werden, die nur wegen ihr überhaupt zustande kommen. Doch ist es auch möglich, sich ihrer gewahr zu sein und zu bleiben, wenn wir handeln. Dazu brauchen wir nur aufmerksam genug darauf achten, ob und welches Tun wir auf eine eigene Entscheidung hin ausführen, die wir vielleicht sogar auf irgendwelche und irgendwann vorher durchgeführte Überlegungen hin getroffen haben, selbst wenn wir an diese nicht eigens denken. Es ist also nicht unbedingt nötig 'innezuhalten' und uns ausschließlich auf diese innere Tätigkeit, die wir unser Denken nennen, zu konzentrieren, um zu bemerken und dann auch sicher zu wissen, oder anders (nur...) ausgedrückt: um sich gewahr oder 'bewusst zu werden' und dann zu bleiben bzw. 'zu sein', dass man als denkender Mensch in seinem Denken und Handeln von Natur aus 'frei' und unabhängig ist, wie immer man geübt ist, sich dieser Möglichkeit, die wir als unsere Freiheit bezeichnen, zu bedienen und dadurch auch geistig, also 'im Denken' irgendwann die Selbständigkeit erreicht hat, die man mit den Beinen gemeinhin um das erste Lebensjahr herum beginnt einzuüben – hier allerdings augrund körperlicher Wachstums und biologischer Reifung, der die emotionale und geistige sehr viel später erst nachfolgt, wenn sie überhaupt erreicht wird. Überdies: nur deswegen, weil wir 'in' unserem Denken keine natürlichen Grenzen kennen, sondern ihr Ausmaß lediglich von der jeweils persönlichen Vorstellungsfähigkeit 'beschränkt' ist, innerhalb der wir 'frei schalten' und tun und lassen können, was uns gefällt, ist die Forderung sinnvoll, oft sogar nötig, sich nicht in beliebigen Gedankenspielen zu verlieren und mehr oder weniger phantastischen Wolkenkuckucksheimen zu versteigen, sondern mit dieser grenzenlosen Freiheit aufmerksam, rücksichts- und verantwortungsvoll umzugehen.

Gerade 'verantwortungsvolles' Denken wird immer die Reflexion auf die Begriffe mit einschließen, mit denen man sich mit sich selbst oder anderen 'auseinandersetzt' und dabei Stellung nimmt oder Antworten gibt. Sonst ist schon die Rede verantwortungslos, in der man sich 'äußert' oder sogar versucht, andere zu 'beeinflussen', obwohl da nichts fließt und schon gar nicht 'in' einen anderen, sondern es auch da wieder um ein Tun, Handeln, eine Aktivität oder Tätigkeit geht: um ein Mitmachen, ein in diesem Fall in jedem Sinn dieses Wortes 'logisches' Mitdenken. Auch hierbei herrscht selbstredend Gedankenfreiheit, mit der auch all die zahllosen Unsinnigkeiten und Sinnlosigkeiten der Spekulationen über unser Hirn zusammenhängen, die Bennett und Hacker in ihrem epochalen Werk auf fast einem Halbtausend Seiten analysieren und vor denen sich alle 'analytisch' Denkende vorsehen sollten – außer jemand denkt nur, dass er analytisch denkt, wenn er denkt, dass er so denkt, weil er vielleicht nur 'gewohnt' ist zu denken, was er denkt, wenn er denkt; denn es gibt sogar eine Gedankenlosigkeit in Denken, so unendlich ist unsere Gedankenfreiheit: sie reicht über bloßen Glauben weit ins Leere, woraus eine Lehre zu ziehen gewöhnlich für Intelligenz gehalten wird, obwohl es auch diese so viel oder so wenig gibt wie Freiheit, je nach Betrachtungsweise, die wir auch frei und damit beliebig wählen können. Selbst im Denken spielt nämlich Liebe wenigstens in Form von Vorlieben und auf ihnen beruhenden Vorurteilen eine Rolle, womit allerdings ein anderes, psychologisch nicht weniger wichtiges Kapitel eröffnet werden müsste.

Ingo-Wolf Kittel, Augsburg - Facharzt für Psychotherapeutische Medizin

zum Artikel von Ansgar Beckermann

 



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