III. Die Entziehungsgründe des § 4 Abs. 1 Satz 1 GFaG
Soweit das GFaG in den einzelnen Bundesländern noch nicht aufgehoben ist, enthält § 4 Abs. 1 Satz 1 GFaG die Ermächtigungsnorm für die Entziehung eines einmal verliehenen akademischen Grades. § 4 Abs. 1 Satz 1 GFaG hat folgenden Wortlaut:
„Der von einer deutschen staatlichen Hochschule verliehene akademische Grad kann wieder entzogen werden,
a) wenn sich nachträglich herausstellt, daß er durch Täuschung erworben worden ist, oder wenn wesentliche Voraussetzungen für die Verleihung irrigerweise als gegeben angenommen worden sind,
b) wenn sich nachträglich herausstellt, daß der Inhaber der Verleihung eines akademischen Grades unwürdig war,
c) wenn sich der Inhaber durch sein späteres Verhalten der Führung eines akademischen Grades unwürdig erwiesen hat."
In Bayern hatte § 4 Abs. 1 Satz 1 GFaG früher folgenden Wortlaut:
„Der von einer deutschen Hochschule oder deutschen Fachhochschule verliehene akademische Grad kann unbeschadet des Art. 48 des Bayerischen Verwaltungsverfahrensgesetzes wieder entzogen werden, wenn sich
a) (gegenstandslos)
b) der Inhaber durch sein späteres Verhalten der Führung eines akademischen Grades unwürdig erwiesen hat."
Das Bundesverwaltungsgericht hat wiederholt die Auffassung vertreten, daß diese Bestimmung kein NS-Gedankengut ist und demzufolge auch heute noch fortgilt. (83)
Zur Verdeutlichung der Problematik ist darauf hinzuweisen, daß bis zum Inkrafttreten des GFaG im Jahre 1939 Widerrufs- und Entziehungstatbestände den Promotionsordnungen vorbehalten waren. Erst das GFaG aus dem fahre 1939 sah als Entziehungstatbestand das „unwürdige Verhalten" vor. Darüber hinaus wurde im GFaG festgelegt, daß über den Entzug eines akademischen Grades das sogenannte Dekane-Konzil entscheidet, wobei Rektor und Dekane von dem zuständigen Minister ernannt wurden. Damit wurde die Hochschulautonomie ersichtlich untergraben.
Alle Hochschulgesetze der Länder sehen vor, daß die Fachbereiche bzw. Fakultäten zum Erlaß von Studienprüfungs- sowie Promotionsordnungen zuständig sind. (84)
Aufgrund dieser Ermächtigungsgrundlage haben die Hochschulen entsprechende Studien- und Prüfungsordnungen sowie Promotionsordnungen erlassen. Diese Ordnungen enthalten auch Bestimmungen über die Entziehung akademischer Grade. So heißt es beispielsweise in der Prüfungsordnung für Diplom-Dolmetscher und Diplom-Übersetzer vom 2. Juli 1986 der Universität des Saarlandes wie folgt: (85)
„§ 26 Entziehung des Diploms
(1) Das aufgrund dieser Prüfungsordnung erworbene Diplom kann durch Beschluß des Fachbereichsrats entzogen werden, wenn sich herausstellt, daß es durch Täuschung erworben worden ist oder daß wesentliche Voraussetzungen für die Verleihung irrtümlich angenommen worden sind."
In der Promotionsordnung der Rechts- und Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Universität des Saarlandes für die Promotion zum Doktor des Rechts vom 12.2.1992 ist folgendes geregelt: (86)
„§ 17 Entziehung des Doktorgrades
(1) Der Doktorgrad kann durch Beschluß des Großen Fakultätsrates (§ 40 Abs. 2 UG) entzogen werden, wenn sich herausstellt, daß er durch Täuschung erworben worden ist oder daß wesentliche Voraussetzungen für die Verleihung irrtümlich angenommen worden sind.
(2) Vor der Beschlußfassung ist dem Inhaber Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben. Der Beschluß ist mit Gründen zu versehen und dem Betroffenen unter Rechtsmittelbelehrung zuzustellen."
In der Literatur wird die Auffassung vertreten, daß derartige Bestimmungen dem § 4 GFaG vorgehen." Diese Auffassung läßt sich sowohl mit dem Rechtsgedanken der spezielleren gesetzlichen Regelung („lex specialis") als auch mit dem Rechtsgedanken der späteren gesetzlichen Regelung („lex posterior derogat legi priori" ) begründen.
Im übrigen beinhaltet § 4 Abs. 1 Satz 1 GFaG ein reines Opportunitätsermessen. (88) Selbst wenn man sich der Auffassung von Thiemeg (89)nicht anschließt, dürfte es unzweifelhaft sein, daß ein Fachbereich/eine Fakultät berechtigt ist, von vornherein in einer Studien- und Prüfungsordnung sowie in einer Promotionsordnung festzulegen, ob von der Entziehungsmöglichkeit des § 4 Abs. 1 Satz 1 c GFaG („Unwürdigkeit") Gebrauch gemacht werden soll oder nicht. Jede andere Auffassung wäre mit der Selbstverwaltungsautonomie des Fachbereiches bzw. Fakultät nicht zu vereinbaren. (90)
Man kann nicht davon ausgehen, daß eine Hochschule zwar das Verfahren und die Zuständigkeit bei Entziehung eines akademischen Grades wegen Täuschung oder Irrtums regeln wollte und auch geregelt hat, während Verfahren und Zuständigkeit im Hinblick auf eine Entziehung wegen Unwürdigkeit ungeregelt bleiben. Hieraus folgt, daß in all den Fällen, in denen in der Studien- und Prüfungsordnung sowie der Promotionsordnung eine dem § 4 Abs. 1 Satz 1 c GFaG entsprechende Regelung nicht vorhanden ist, eine Entziehung eines akademischen Grades wegen Unwürdigkeit durch den Fachbereich bzw. die Fakultät nicht in Betracht kommt. § 4 Abs. 1 Satz 1 c GFaG räumt den Hochschulen ein Entschließungsermessen ein, ob ein akademischer Grad wegen Unwürdigkeit entzogen werden soll. Von der Ermächtigung muß eine Hochschule keinen Gebrauch machen. Sie kann von vorneherein auf die Geltendmachung eines derartigen Entziehungsgrundes verzichten. (91)
Es wurde bereits darauf hingewiesen, daß das Bundesverwaltungsgericht keine verfassungsrechtliche Bedenken gegen die Bestimmung des § 4 Abs. 1 Satz 1 b und c GFaG hat. Da das Bundesverfassungsgericht (92) diese Rechtsprechung ausdrücklich bestätigt hat, das Bundesverwaltungsgericht sich die Auffassung des Bundesverfassungsgerichts „zu eigen gemacht hat (93) und auch die Instanzgerichte (94) dieser Rechtsprechung ohne jegliche Einschränkung folgen, wird man die in der Literatur geäußerten rechtstaatlichen Bedenken - insbesondere in Bezug auf den Begriff „Unwürdigkeit" - zurückstellen müssen. (95)
Außer im Zusammenhang mit dem Entzug von akademischen Graden wegen Unwürdigkeit des Inhabers hatte das Bundesverwaltungsgericht in der Vergangenheit vielfach Gelegenheit, den unbestimmten Rechts begriff „Unwürdigkeit" zu präzisieren. Dieser unbestimmte Rechtsbegriff unterliegt der vollen richterlichen Nachprüfung.(96) In Bezug auf einen Arzt hat das Bundesverwaltungsgericht ausgeführt, daß dieser zur Ausübung des ärztlichen Berufs unwürdig ist, wenn er durch sein Verhalten nicht mehr das Ansehen und das Vertrauen besitze, das für die Ausübung seines Berufes unabdingbar nötig sei. (97)
Das Bundesverwaltungsgericht hat weiterhin betont, und zwar im Zusammenhang mit der Auslegung des § 3 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 BÄO i.V.m. § 11 Nr. 4 ÄAppO, daß der Begriff „Unwürdigkeit" - ebenso wie der Begriff „Unzuverlässigkeit" - nicht schematisch und stets gleich verstanden werden darf. Es ist vielmehr unter den zweckentsprechenden jeweils die Auslegung zu wählen, die das Grundrecht der Freiheit der Berufswahl des Betroffenen am wenigstens beschränkt. (98) Soweit es somit um die Zulassung zu einer ärztlichen Prüfung geht, seien weitaus weniger strenge Maßstäbe anzulegen als im Zusammenhang mit der Approbation. Gerade im Hinblick auf das Grundrecht des Art. 12 Abs. 1 GG sei eine verfassungskonforme Auslegung geboten. (99)
Im übrigen ist der Umstand, daß der Entzug eines akademischen Grades in das Grundrecht der Berufswahl oder zumindest in das Grundrecht der Berufsausübung eingreift, im Rahmen der Ermessensausübung gem. § 4 Abs. 1 GFaG zu berücksichtigen. Wenn jemand durch Täuschung einen akademischen Grad als berufsqualifizierenden Abschluß erworben hat, er somit die entsprechende Berufsqualifikation gar nicht nachgewiesen hat, gebietet es der Schutz besonders wichtiger Gemeinschaftsgüter, daß der akademische Grad wieder entzogen wird. Dies gilt jedoch nicht generell beim Entzug eines akademischen Grades wegen Unwürdigkeit. Erforderlich ist, daß die Unwürdigkeit einen konkreten Bezug zum ausgeübten Beruf hat.
Soweit es darum geht, jemandem wegen „Unwürdigkeit" den Doktorgrad, der keinen berufsqualifizierenden Abschluß beinhaltet, zu entziehen, so ist nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichtes Art. 12 Abs. 1 GG nicht berührt, da die Entziehung des Doktorgrades weder darauf abziele, die Berufsausübung als solche unmöglich zu machen, noch darauf, Art und Weise der Berufsausübung zu reglementieren. Zwar sei inzwischen anerkannt, daß auch solche Auswirkungen staatlicher Maßnahmen als Beeinträchtigungen der beruflichen Betätigungsfreiheit den Schutzbereich des Art. 12 Abs. 1 GG berühren, deren Herbeiführung von der Maßnahme zwar nicht bezweckt werde, die sich aber als deren vorhersehbare und in Kauf genommenen Nebenfolgen darstellen. Und so gesehen könne auch die Entziehung eines akademischen Grades im Einzelfall - je nach der besonderen Situation des Betroffenen - gelegentlich auch berufliche Erschwernisse unterschiedlicher Art und auch von sachlichem Gewicht zur Folge haben. (100) übrigen seien derartige Umstände im Rahmen der Ermessensausübung zu berücksichtigen.
In Rechtsprechung und Literatur wurde vielfach die Auffassung vertreten, daß nach einer strafrechtlichen Verurteilung ein akademischer Grad wegen Unwürdigkeit entzogen werden kann. (101) Eine strafrechtliche Verurteilung hat jedoch mit dem Doktorgrad nichts zu tun. Der Doktorgrad verleiht nicht nur Würde und Ansehen (wenn auch nicht mehr in dem früheren Ausmaß), sondern bestätigt auch die Anfertigung einer wissenschaftlichen Leistung. Demzufolge stellt ein Teil der Rechtsprechung darauf ab, ob der Betreffende den aus der Verleihung des Doktorgrades resultierenden Anspruch auf Wissenschaftlichkeit mißbraucht hat. 102) Dieser Argumentation ist zu folgen.
Maurer (103) vertritt insoweit allerdings die Auffassung, daß eine solche Eingrenzung der Bestimmung des § 4 Abs. 1 Satz 1 c GFaG nicht mehr durch eine restriktive Auslegung möglich sei, sondern daß dies durch eine (neue) Regelung im Gesetz erreicht werden müßte. Hierbei wird allerdings nicht deutlich zum Ausdruck gebracht, ob diese Bestimmung verfassungswidrig ist. Entgegen dieser Auffassung ergibt sich die Möglichkeit einer restriktiven Auslegung daraus, daß es sich hierbei um eine Kann-Vorschrift handelt. Auch wenn diese Kann-Vorschrift ursprünglich ein Opportunitätsermessen war, so kann es keinen Zweifel daran geben, daß diese Bestimmung heute als allgemeine Ermessensbestimmung anzusehen ist, wobei das Ermessen sachgemäß ausgeübt werden muß. Die vorgebrachten verfassungsrechtlichen Bedenken sind hierbei zu berücksichtigen. (104)
Streit besteht in Rechtsprechung und Literatur darüber, ob § 4 Abs. 1 GFaG durch § 48 VwVfG verdrängt wird. (105) Fraglich ist insbesondere, ob die Jahresfrist des § 48 Abs. 4 VwVfG gilt. Das Bundesverwaltungsgericht hat diese Frage ausdrücklich offengelassen; dies sei eine Frage des irrevisiblen Landesrechtes. (106) Aufgrund des Wortlautes des § 1 Abs. 3 VwVfG wird man jedoch davon ausgehen müssen, daß der Vorrang spezialgesetzlicher Regelungen allein bedeutet, daß bei entgegenstehenden Regelungen nicht auf das Verwaltungsverfahrensgesetz zurückgegriffen werden kann. Ist indes das Spezialgesetz unvollständig, so ist zu prüfen, ob die Regelungen des Verwaltungsverfahrensgesetzes ergänzend anzuwenden sind. Dabei ist die ergänzende Heranziehung der Normalfall, es sei denn, dieses widerspricht dem Sinn und Zweck des Spezialgesetzes. (107)
Das Bundesverwaltungsgericht betont insoweit den Vertrauensschutz in die Bestandskraft eines Verwaltungsaktes. (108) Dies bedeutet, daß auch beim Entzug eines akademischen Grades grundsätzlich die Jahresfrist des § 48 Abs. 4 VwVfG zu beachten ist.
Letztendlich stellt sich die Frage, ob die Entziehung eines akademischen Grade mit ex-nunc-Wirkung (109) oder auch mit ex-tunc-Wirkung erfolgt. Hierbei ist zu differenzieren zwischen der Entziehung eines akademischen Grades wegen Täuschung beim Erwerb (z.B. Fehlen der wesentlichen Voraussetzungen für die Verleihung) und der Entziehung eines akademischen Grades wegen Unwürdigkeit. In dem zuerst genannten Fall kann stets der akademische Grad mit ex-tunc-Wirkung entzogen werden.(110) Bei Entziehung eines akademischen Grades wegen Unwürdigkeit kommt indes nur die Entziehung mit ex-nunc-Wirkung in Betracht.
IV. Die Kompetenzregelung nach § 4 Abs. 1 Satz 2 GFaG i. V. m. Ziff. 3 DVO-GFaG
Gemäß § 4 Abs. 1 Satz 2 GFaG entscheidet über die Entziehung eines akademischen Grades diejenige (deutsche) Hochschule, die den akademischen Grad verliehen hat.; .... Weiter in Zimmerling, S. 70, oder auf Anfrage.
Das deutsche Titelwesen
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