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Gehirn - Geist / Artikel Übersicht / Ergebnis der Gehirnforschung
 

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Ergebnis der Gehirnforschung:
Der freie Wille ist eine Illusion

 

Vorbemerkung    

Am 21. Oktober 2002 veranstaltete das Zeitforum der Wissenschaft der Wochenzeitung DIE ZEIT in Berlin eine Podiumsdiskusion zum Thema"Hirnforschung und der Verlust des freien Willens". Anwesend waren u. a. Gerhard Roth, Prof., Dr., vom Institut für Hirnforschung der Universität Bremen und Mitglied der berlin/brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Klaus Günther, Prof., Dr., vom Institut für Kriminalwissenschaften und Rechtsphilosophie an der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität in Frankfurt a. M., und Oskar Beckermann, Prof., Dr., Präsident der Gesellschaft für analytische Philosophie, Bielefeld.

Gerhard Roth ergänzte den zu Beginn der Diskussion vom Moderator an ihn gerichteten Satzanfang

"Der freie Wille ist für mich" mit der kurzen Bemerkung "eine Illusion".

Klaus Günther's Ergänzung lautete: "eine Illusion, die wir brauchen, um in der Gesellschaft zusammenleben zu können."

Der nachfolgende Artikel wurde im Sommer 2001 verfaßt.

Ich denke, ....."

Wer glaubt, etwas Wichtiges zu sagen, leitet seine Rede oder nur einen Satz mit "ich denke" ein. Werden sich die Deutschen etwa plötzlich wieder bewußt, daß sie einst als das Volk der "Dichter und Denker" bezeichnet wurden? Der bekannte Ausspruch des französischen Philosophen und Mathematikers René Descartes beginnt zwar auch mit der Feststellung "Ich denke", doch er sagte dies nicht um weiterzusprechen, sondern um seine Existenz zu begründen ("also bin ich"). Nun scheint zu gelten: "Ich spreche, also denke ich", ohne zu wissen, was "denken" bedeutet, wie das Denken im Kopf abläuft. Und wer das Denken näher untersucht, gelangt zwangsläufig zu der Funktion des Menschen, die das Denken auslöst, das Handeln. Wer ist nicht davon überzeugt, daß dem Handeln jeweils eine freie Willensentscheidung vorausgeht? Die Gehirnforschung hat hier jedoch eine Enttäuschung für den Menschen, der sich für die Krone der Schöpfung hält, parat.

Etymologisch betrachtet (Kluge: "Etymologisches Wörterbuch) gibt es für denken Hinweise auf die slawische Bedeutung wiegen und darauf, daß das germanische Wort für "denken" ursprünglich ein "erwägen", lateinisch tongere, den nach diesem Vorgang erreichten Zustand (wissen) bezeichnete, analog dem Wort "dünken", das ebenfalls "wiegen" bedeutete, also (unpersönlich) mir wiegt etwas, mir ist etwas gewichtig. Diese Begriffe "erwägen", "wiegen", "gewichten2 haben im Sinne von "bewerten" bei der Arbeitsweise des Gehirns eine große Bedeutung.

In 10 Jahre alten Wörterbüchern wird "denken" u. a. mit "glauben", "meinen", "sich einbilden", "annehmen", "sich vorstellen", "gesonnen sein", "beabsichtigen", "gedenken", "sich im Geiste vorstellen", "im Sinne haben", (z. B. Wahrig) gleichgesetzt. Die Gedanken sind jedoch nicht die braven Sklaven des Willens. Und das ist das Problem. Sie, als Leser dieser Zeilen angesprochen, können zwar Ihrem Verstand befehlen, diesen Text zu lesen. Ob er das Gelesene versteht und auf welche Weise er es verarbeitet, darauf haben Sie keinen Einfluß. Wer den Denkprozeß entschlüsseln will, hat es mit dem kompliziertesten aller Forschungsprojekte zu tun. Die weiteren Definitionen für das Verb "denken" lassen ahnen, welche Funktionsvielfalt in dem in der Umgangssprache durch gedankenlosen Gebrauch abgewerteten Begriff Denken verborgen ist. Deshalb kommen die Auslegungen "geistig arbeiten", "urteilen", "überlegen", "ersinnen" (Wahrig) und das Anwenden der menschlichen Fähigkeit des Erkennens und Urteilens sowie mit dem Verstand arbeiten (Duden) der Wahrheit wesentlich näher. Zum richtigen Denken gehören klare Definitionen von Begriffen und deren Kombinationen nach den Regeln der Logik, so jedenfalls lautete 2000 Jahre lang die Vorstellung. Demnach wäre das Denken ein "systematisches, logisches Schließen".

 
Die Erforschung des Gehirns

In den USA fand im vergangenen Jahrzehnt besonders intensive Gehirnforschung statt. Eine Reihe von namhaften Neurologen (Steven Pinker ("Wie das Denken im Kopf entsteht"), Daniel L. Schacter ("Wir sind Erinnerung"), William H. Calvin + George A. Ojemann ("Einsicht ins Gehirn"), Frederic Vester ("Neuland des Denkens"), Daniel Goleman ("Emotionale Intelligenz"), Antonio R. Damasio ("Descarte's Irrtum" und "Ich fühle, also bin ich"), Joseph LeDoux ("Das Netz der Gefühle "), Robert Wrigth ("Diesseits von Gut und Böse") und der Deutsche Gerhard Roth ("Das Gehirn und seine Wirklichkeit") berichteten in ihren Veröffentlichungen über ihre neuen Erkenntnisse in der Gehirnforschung. Auch für Psychologen hat das Gehirn eine große Bedeutung, vor allem seit es als das Organ angesehen wird, das die Psyche, die Seele bildet. Kürzlich diskutierten Psychologen im Max Planck Institut für psychologische Forschung in München über das Thema "Kognition und Handlung im Sozialen Leben", Markus Schulte von Drach berichtete in der SZ (29.05.01) darüber.

Die "Krone der Schöpfung"

Die Erkenntnisse sowohl der Neurologen als auch der Psychologen sind eine große Enttäuschung für den Menschen, der sich als Krone der Schöpfung sieht. Danach ist die (bewußt ausgeübte) "menschliche Fähigkeit des Erkennens und Urteilens" leider mehr beschränkt, als es nicht nur den denkbetonenden Sprechern, sondern uns allen lieb sein kann. Diese Fähigkeit wird, ob wir es wollen oder nicht, gebremst durch die Unkenntnis der unbewußten Vorgänge im Gehirn, die nicht die Ausnahme bilden, sondern die Regel sind. Wir müssen uns nicht nur damit abfinden, daß unsere Gene zu 98 % mit denen der Schimpansen übereinstimmen. Im Jahre 2003 schrieb eine internationale Gruppe von Genforschern in den Fachblättern Science und Nature, daß sogar 98,6 Prozent der Gene von Schimpansen und Mensch identisch seien.  Der Schimpansen nächste Verwandte sind also nicht etwa die Gorillas, sondern wir. Wir müssen ferner ertragen, daß bei uns auch das meiste, was unsere Interaktion mit der Umwelt steuert, unserem bewußten Erleben nicht zugänglich ist. Jeweils nicht zu wissen, welche Sektionen und welche Strukturen des Gehirns - wenn auch im Einzelfall teilweise mehr sichtbar als meßbar - aktiv wurden und werden, ist schon enttäuschend, aber weniger relevant als die Machtlosigkeit des Menschen auch gegenüber dem Einfluß meistens unbekannter, weil ungewollt und unbewußt gespeicherter Erinnerungen. Sie sind ständig wirksam und werden es auch während des Denkens. Nicht selten treiben sie dabei ihr (un)heimliches Unwesen. Es bleibt jedoch noch genügend Anlaß, Denkleistungen zu bewundern.

Die Zahl der übereinstimmenden Gene ist schon beeindruckend, wird aber relativiert durch die Tatsache, daß die einzelnen Gene jeweils eine Vielzahl unterschiedlicher Funktionen auslösen. Es wurde jetzt festgestellt, daß im evolutionär jüngsten Gehirnteil, der Großhirnrinde der Vernetzung der Neuronen beim Menschen ein dreimal so großer Platz wie beim Schimpansen zur Verfügung steht. Die Genetiker hoffen, hier Erklärungen für die Besonderheit des Menschen zu finden, die während der sechs Millionen Jahre vom Affen getrennten Entwicklung entstanden ist.  

Das Limbische System

Unbewußt bedeutet, wir, die wir meist von unseren Fähigkeiten so überzeugt sind, merken beim Denken nichts davon, was im Gehirn vor sich geht. Wir befinden uns in der Rolle von unschuldig Betroffenen, die unserem Denksystem ausgeliefert sind und spüren allenfalls Emotionen, die Gefühle auslösen. Wie stark die Emotionen den denkenden Geist im Griff haben, wird deutlich, wenn die Entwicklung und die Funktion des Gehirns näher betrachtet werden. Es ist im Laufe der Evolution von seiner Basis aus gewachsen. Seine höheren Zentren haben sich als Verfeinerungen aus älteren, niederen Teilen entwickelt. Die emotionalen Zentren sind aus der primitivsten Wurzel, dem Hirnstamm, hervorgegangen, an den sie grenzen, und weil sie den Hirnstamm umgeben, nannte man sie das "limbische System", abgeleitet vom lateinischen Wort "limbus" für "Ring". Es hat Jahrmillionen gedauert, bis sich aus diesen emotionalen Bereichen der "Neokortex" entwickelt hat, den wir als den Sitz des Denkens bezeichnen.

Gedächtnissystem (Neokortex) und limbisches (Bewertungs-)System hängen untrennbar zusammen. Erinnerung ist nicht ohne Bewertung möglich, und jede Bewertung geschieht aufgrund der Erinnerung, d. h. an frühere Erfahrungen und Bewertungen, und des gerade anliegenden emotionalen Zustandes. Beim Denken erhalten wir jedoch keine eindeutigen Signale oder gar Warnungen, die uns darüber informieren, wie stark die Einflüsse und die jeweils zugeordneten und im Gedächtnis mitgespeicherten Bewertungen (vorteilig/nachteilig, leidvoll/freudvoll) wirksam sind. Die Bewertung dessen, was das Gehirn tut, erledigt das limbische System. Dies geschieht nach den Grundkriterien "Lust" und "Unlust" und nach Kriterien, die davon abgeleitet sind. Das Resultat dieser Bewertung wird im Gedächtnis festgehalten. Und da die Zahl der Verbindungen vom limbischen System zum Neokortex zahlreicher sind als die in der Gegenrichtung scheint unser Handeln grundsätzlich mehr vom Gefühl beeinflußt zu sein als vom Verstand, was Männer natürlich strickt ablehnen. Aber vielleicht haben sie nur die Fähigkeit erworben, ihre Handlungen besser zu erklären, um ihren Machtanspruch zu erhalten?

Der Vorrang des Gefühls schließt nicht aus, das jeweils auch geschlechtstypische Besonderheiten der Evolution wirksam sind. Wie auch immer, bei der Art, wie unser Gehirn arbeitet, also denkt, muß das Denkergebnis nicht selten Verwunderung und/oder Kritik auslösen. Im Umfeld klingelt es dann ziemlich schnell, wenn etwas unstimmig oder faul ist. Beim (hoffentlich) selbstkritischen Denker läutet (hoffentlich) die Alarmglocke mehr oder weniger verzögert, und zwar deshalb, weil - das gilt für uns alle - die im Gehirn als Ergebnis des Denkvorganges entstandene Entscheidung einschließlich der sogleich vom Gehirn mitgelieferten und dazu passenden Begründung - wir glauben daher auch zunächst, richtig gehandelt zu haben - uns immer erst ca. 1/3 Sekunde später (!) bewußt wird. Man muß diese Aussage mehrmals lesen, um seine volle Tragweite zu erfassen. Nochmals: Alles im Gehirn beschlossene Handeln wissen wir erst etwas später! Zu dieser Erkenntnis kam der amerikanische Neurophysiologe Benjamin Libets bereits vor über 20 Jahren, als er in mehreren Experimenten nachwies, daß uns nur die wenigsten Wahrnehmungen bewußt werden - und wenn, dann auch noch mit Verspätung. 

Die Zweifel Darwins

Wir können uns gegenüber dieser Art zu denken nicht wehren. Es bleibt uns daher nichts anderes übrig, als mit den möglicherweise unbeabsichtigten Folgen des Denkvorganges, nach Ansicht der Gesellschaft immer noch aus einem Akt "freier Willensentscheidung" hervorgegangen, fertig zu werden. Schon Charles Darwin (1809 - 1882, Begründer der Selektionstheorie) hatte Probleme, die Willensfreiheit des Menschen anzuerkennen, und zu ihr eine verblüffend moderne Auffassung, wenn er feststellte, "Unser Bewußtsein weiß nicht um alle Kräfte, die uns veranlassen, etwas zu tun." Deshalb war für ihn die Zuversicht tröstlich, daß seine Einsichten nie und nimmer Gemeingut werden würden. Es hat ja auch eine Weile gedauert, bis Neurologen es merkten und - wegen der schuld- und strafrechtlichen Bedeutung öffentlich äußerten. Auch wenn es die Schuldverfechter und die Bestrafungsextremisten nicht wahrhaben wollen: "Schuld und Strafe sind aus praktischer Sicht ebenso unentbehrlich, wie sie im Lichte der Vernunft Undinge sind. Hat man erst einmal die Kräfte erkannt, die das menschliche Handeln steuern, fällt es schwer, den Handelnden zu verurteilen." (Robert Wright).

Das Gehirn - Wunderwerk der Natur

Beim Sprechen denken wir, d. h. arbeitet das Gehirn weiter. Es kommen sogar weitere Einflüsse und Reaktionen hinzu, die es während des Sprechens zusätzlich berücksichtigen und verarbeiten muß. Wortwahl, Lautstärke, Betonung, Geschwindigkeit, Hemmung, Stimmung, Mimik und Körperhaltung erfordern die Mitwirkung weiterer Gehirnbereiche. Es finden wie beim Überlegen und Bedenken ständig neben den bewußten auch unbewußte, d. h. uns im Moment verborgene Erinnerungen an ähnliche Situationen statt, die zum Vergleichen mit der gegenwärtigen Situation herangezogen werden. Ferner reagiert es auf die Reaktionen des Zuhörers (Körperhaltung, Einwände, Zwischenrufe, Kritik) und auf örtliche und persönliche Verhältnisse (Geruch, Lärm, Stimmung, Temperatur, Unpäßlichkeit). Geheime und dringende Wünsche sowie verdrängte, aber gespeicherte und plötzlich (ohne Ankündigung) wieder aufkeimende Bedürfnisse können einfließen. Und wenn man bedenkt, daß das Gehirn als der wichtigste Teil des Zentralnervensystems mehr als 100 Milliarden Nervenzellen (Neuronen) enthält, von denen jede einzelne mit bis zu 10 000 anderen über insgesamt ca. 100 Billionen (= 10 hoch 14) Synapsen mittels Aktionspotentiale in Wechselwirkung treten kann und die Gesamtlänge der die elektrochemischen Signale weiterleitenden Nervenfasern (Axone) mehrere hunderttausend Kilometer beträgt, um nur einige Daten zu nennen, dann grenzt es an ein Wunder, daß dieses Gesamtsystem überhaupt funktioniert, und es scheint verständlich, daß wir noch lange brauchen werden, um das Ergebnis seiner langen Entwicklung völlig zu verstehen.

Weitere Einzelheiten sind im Artikel "Das Gehirn, Ergebnis der Evolution" angegeben.
 

Das Gehirn zwischen Gene und Umwelt

Die kleinsten Einheiten des Gehirns mögen zwar bereits gründlich erforscht sein und für sich betrachtet schon ein biologisches Wunderwerk darstellen, so z. B. die Nervenzelle (Neuron), deren Kern die DNA der Zelle sowie lebenserhaltende Strukturen einschließlich der energieliefernden Mitochondrien enthält, sowie das endoplasmatische Retikulum, ein Netzwerk, das Proteine und chemische Botenstoffe (Neurotransmitter) herstellt. Wir können Furcht, Liebe und Freude einzelnen Bereichen des Gehirns zuordnen. Es wurde auch schon festgestellt, daß Erinnerungen ständig geändert werden und wir jeweils die geänderte Erinnerung als die ursprüngliche betrachten und hartnäckig verteidigen. (Eine Eigenschaft des Gehirns, das so manche Zeugenaussage vor Gericht in ein Märchen verwandelt.) Wir wissen nur nicht, warum. Und mögen die Schaltkreise noch so einfach strukturiert sein, es entsteht aus ihren Wechselwirkungen doch irgendwie das unfaßbare Phänomen des menschlichen Bewußtseins. Es erwägt und vergleicht unentwegt und berücksichtigt dabei die Vielzahl von Einflüssen und Reaktionen. Es leistet sich dabei (im Normalfall) relativ wenige folgenreiche Fehler.

Aber das System des Verschaltens, Umschaltens und Abschaltens der einzelnen Nervenzellen, das Anlegen von Vernetzungen zu Vorstellungen, Repräsentationen und Dispositionen, warum, wie und in welcher Intensität ein Ereignis gespeichert wird und warum, wie und in welcher Stärke es bei der Entscheidungsfindung abgerufen und berücksichtigt wird, das wissen wir immer noch nicht. Ist es dann nicht verständlich, daß hin und wieder gravierende Fehlschaltungen oder Kurzschlüsse auftreten, die, Aufmerksamkeit erregend, zu Handlungen führen, die die Gesellschaft verwundert oder ablehnt, vehement ablehnen muß, in der Hoffnung, genügend starke Barrieren aufzubauen, die künftig ähnliches Verhalten verhindern?

Das Gehirn "denkt" eigensinnig

Die Funktionsvielfalt des Gehirns befähigt uns, sich in der inzwischen, d. h. in den vergangenen zehntausend Jahren ziemlich kompliziert gewordenen Welt zurechtzufinden. Das gelingt uns auch so leidlich bis ziemlich gut. Häufig wird jedoch vergessen, daß das Gehirn das Organ ist, das sich im Laufe der Jahrmillionen seiner Entwicklung als die zentrale Steuereinheit zum Fortpflanzen und zum Arterhalten herausgebildet hat. In dieser Rolle war es offensichtlich sehr erfolgreich. Es filtert weiterhin viele der über die Sinnesorgane (Auge, Nase, Ohr, Haut) aufgenommenen Reize heraus, wenn sie der genannten Zielsetzung nicht dienen. Es verschont uns aber auch davor, die für die genannte Zielsetzung notwendigen Einflüsse auf den gesamten Körper und dessen Reaktionen in allen Einzelheiten zu spüren. Es scheint daher vermessen zu sein zu glauben, wir seien Herr über unser Denken. Diese Einsicht, falls sie vorhanden wäre, läßt die schockierende Interpretation der Erkenntnisse Charles Darwins über die Entstehung der Arten am Ende des 19. Jahrhunderts "DerMensch stamme vom Affen ab" gelassen hinnehmen. Aber damit nicht genug. Heute schließen Psychologen und auch Neurologen aus ihren Experimenten: Wir sind Affen ohne einen freien Willen.

Gott- oder Denkvertrauen

Menschenfreundlicher und sachlicher ausgedrückt: Das Gehirn denkt weitgehend autonom und automatisch in und für uns, ohne daß wir - abgesehen von Einzelheiten - das höchst komplizierte Geschehen überblicken, verstehen und kontrollieren können. Uns bleibt nur übrig, Gott oder darauf zu vertrauen, daß der wahrscheinlich nie in allen Details erkennbare Denkvorgang ohne negative Folgen für uns - allenfalls, um aus ihnen zu lernen - und die Umwelt funktioniert, also "gut ausgeht". Für den Einzelnen mag diese Feststellung deprimierend sein, sie sollte ihn aber nicht zur Passivität veranlassen. Dem Mitmenschen gegenüber hilft sie, das Verständnis für dessen oft nicht verstehbares Handeln zu erleichtern.
 
Die Willensfreiheit des Menschen

Auch die Erkenntnisse der Psychologen lassen Zweifel an der Willensfreiheit des Menschen aufkommen. Dan Wegner von der Harvard University in Cambridge, USA. erläuterte, "Die Psychologie untersucht genetische, neuronale, kognitive, emotionale, soziale und andere Faktoren, die unser Verhalten verursachen. Wenn wir nun aufgrund dieser Gegebenheiten etwas tun, warum nehmen wir dies trotzdem häufig als ein bewußtes eigenes Wollen wahr?" Wegner glaubt, daß die subjektive Erfahrung lediglich eine Interpretation unserer Gedanken als Auslöser unserer Handlungen ist. Dahinter stecke das Bedürfnis des Menschen, in voneinander unabhängige Beobachtungen Zusammenhänge hineinzudeuten (vergleichbar mit der jeweils mitgelieferten Begründung für unsere Entscheidungen, s. o.). Wegner schließt aus diversen Experimenten mit Testpersonen, daß das Wollen als eigenes Phänomen betrachtet werden muß, welches von unbewußten geistigen Prozessen hervorgerufen wird, die mit der ausgeführten Handlung zusammenhängen können. Ausgelöst wird die Aktion jedoch nicht durch den Gedanken. Wozu ist dann das Gefühl eines freien Willens überhaupt da? "Bewußtsein könnte eine Begleiterscheinung im Moment des Handelns sein, welches hilft, die Erfahrung zu speichern, dass man selbst etwas ausgelöst hat", vermutet er.

Wille und Zwangsläufigkeit

Der Astrophysiker Ulrich Woelk hat einen anderen Ansatzpunkt für seine Überlegungen. "Auf der Ebene der Gene kehrt das alte Dilemma eines mechanistischen Weltbilds und der damit verbundenen Zwangsläufigkeit zurück: Wenn Menschen nur aus Materie bestehen, die den physikalischen Gesetzmäßigkeiten unterliegt, dann ist auch alles, was Menschen aus einem vermeintlich freien Willen heraus tun, nur ein Ausdruck dieser Gesetze. Eine Auflösung dieses Dilemmas ist weder in den Natur- noch in den Geisteswissenschaften möglich. Wir halten uns für frei und sind in Wirklichkeit nur die Marionetten universaler Kräfte."

Die Zukunft als Überraschung

Zurück zum Auslöser dieser Gedanken über das Gehirn. Um den Anschein einer wohlüberlegten Rede zu geben ist der Satzanfang ich denke eine sehr nützliche Redewendung. Mit jeder Wiederholung wird sie bedeutungsloser und schließlich zur nichtssagenden Floskel. Gemessen jedoch an dem, was in unserem Kopf beim Denken tatsächlich vor sich geht, verschleiert der pauschale Begriff ich denke im Einzelfall den momentanen Arbeitszustand des Gehirns und das Ergebnis eines ungeheuer komplexen innerkopflichen Vorganges, der weitgehend unbewußt, von uns nicht beeinflußbar und sogar uns täuschend abläuft. Daher werden wir auch so häufig von den neuronalen Ergebnissen - angeblich meistens der anderen - überrascht. Theodor Heuss sagte seinerzeit zu seinen Landsleuten: "Wir sind nur Zuschauer unseres Schicksals." Geben die Erkenntnisse der Gehirnforschung nicht Anlaß, unser eigenes Verhalten besser zu beobachten, um daraus zu lernen?

ergänzt am 14.11.2006


 



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