Mit geradezu tomographischer Exaktheit hat Heribert Prantl die „forensische Metastase" im Urteil des Bundesverwaltungsgerichts über Helmut Kohls Forderung nach universaler Geheimhaltung der ihn, den damaligen Bundeskanzler, betreffenden Stasi-Akten lokalisiert: die Ungleichbehandlung von Wissenschaftlern und Journalisten. Dem Gericht sind letztlich mindestens drei bedenkliche Kompetenzprobleme anzulasten: Indem es Journalisten nur eine gegenüber Wissenschaftlern eingeschränkte Informationsfreiheit hinsichtlich der (Kohl'schen) Stasi-Akten zugesteht, nimmt es eine Art berufsspezifizierende Zensur vor, die auch als solche mit dem Zensurverbot des Grundgesetzes (Artikel 5 Absatz 1) nicht in Einklang stehen kann.
Zugleich unterbindet das Gericht mit dieser Schöpfung der Bevorzugung von Wissenschaftlern und der Benachteiligung von Journalisten die verfassungsrechtlich gewährleistete Einheit der Informationsfreiheit. Das aber impliziert eine grundgesetzlich unstatthafte Diskriminierung der Pressefreiheit und des Journalismus generell und dürfte von sensiblen Publizisten als totalitär empfunden werden.
Indem das Gericht ferner für den Fall der Aktenherausgabe die Benachrichtigungspflicht der Birthler-Behörde durch Einführung des Einwilligungsrechts der von der Stasi bespitzelten „Personen der Zeitgeschichte" unterläuft, wird das Stasi-Akten-Gesetz prinzipiell und der offensichtlichen Intention des Gesetzgebers zuwider verändert oder gar fast in sein Gegenteil verkehrt: Konnte die Stasi-Unterlagenbehörde als Staatsorgan bisher - innerhalb strenger Eingrenzungen durch das Gesetz - einen Teil der Akten Wissenschaftlern und Journalisten zur Verfügung stellen, dominiert nun das vom Gericht etablierte Einwilligungsrecht. Damit stellt das Gericht kraft seiner konkreten Entscheidung Kohl über Gesetze, Gesetzgeber und verfassungsrechtlich garantierte Pressefreiheit, die eindeutig Informationsfreiheit ist, nicht aber Informationseinwilligungsfreiheit! Folglich verkennt das Gericht das Wesen des Grundrechts der Pressefreiheit.
Indem das Gericht schließlich mit seiner gravierenden Einschränkung der Herausgabe der Stasi-Akten die Informationsmöglichkeit erheblich verringert oder beinahe beseitigt, beeinträchtigt es gleichzeitig die Orientierung des Bürgers im Sinne der „Freiheit der Person" (Artikel 2 Absatz 2 Grundgesetz). Für seine allgemeine Urteilsbildung ist der Bürger jedoch auf umfassende, wahrheitsgemäße und zeitnahe Unterrichtung aus den Massenmedien angewiesen: Wird diese Information - wie im Fall der aktuellen Regelung durch das Gericht - eingeschränkt oder verhindert, ist Orientierung als Voraussetzung intellektueller Freiheit und Entscheidungsgrundlage der Person wesentlich tangiert oder sogar ausgeschlossen. Infolgedessen erhebt sich die Frage auch nach Verletzung der Unantastbarkeit der Würde des Menschen (Artikel 1 Absatz 1), die maßgeblich die Unantastbarkeit seiner Intellektualität umfasst.
Festzustellen ist also: Das Urteil zeitigt schwerwiegende Konsequenzen, die einer verfassungsrechtlichen Überprüfung kaum standhalten dürften. Deshalb wäre es wünschenswert, dass Journalistenverbände oder Rundfunkanstalten rechtzeitig eine Klage beim Bundesverfassungsgericht anstrengten, um die (Un-)Vereinbarkeit des Urteils des Bundesverwaltungsgerichts mit dem Grundgesetz entscheiden zu lassen.
Im Übrigen würde Kohl, sollte die Auffassung Bestand haben, ein weiteres Mal die für die Öffentlichkeit notwendige Transparenz - jetzt der Methoden und Absichten der Stasi - verhindern, wie er bereits im Parteispendenskandal die verfassungsrechtlich gebotene Offenlegung der Herkunft zweifelhafter Gelder trotz energischer Befragungen durch den parlamentarischen Untersuchungsausschuss verweigerte und sich dadurch das Verdikt zuzog, er befinde sich „im Zustand des ermanenten Verfassungsbruchs" (Horst Eylmann, CDU). Diese vorgeschriebene Transparenz missachtet Kohl als notorischer Verfassungsbrecher mit ostentativer Dreistigkeit noch immer. Umso mehr ist es aktuell erforderlich, gegen Kohls „Obsession" der Aufklärungsverhinderung im Fall der Herausgabe von Stasi-Akten die prinzipielle Geltung der Grundrechte und den Informationsanspruch der demokratischen Öffentlichkeit durchzusetzen.
|