Zur Redseligkeit, der sich Helmut Kohl in dem von Warnfried Dettling besprochenen zweiten Band seiner Memoiren hingibt, steht die drakonische Obsession in gnadenlosem Gegensatz, von der er sich - bei Inanspruchnahme des Rechtsmittels der Androhung der Beugehaft gegen die Bundesrepublik Deutschland - bis hinauf zum Bundesverwaltungsgericht treiben ließ, um unter allen Umständen die öffentliche Zugänglichkeit des Gesamtbestandes seiner Stasi-Akten (nur ein unbedeutender Teil von ihnen kann eingesehen werden) und damit die Möglichkeit wissenschaftlicher oder journalistischer Feststellung der Authentizität des ehemaligen Bundeskanzlers zu verhindern.
Wieder verfällt Kohl dem apologetischen Fehler, zu dem ihm bereits sein wunderliches Elaborat „Mein Tagebuch 1998-2000" verunglückt war. Noch immer ist der demissionierte Ehrenvorsitzende der CDU vernichtend getroffen vom Verdikt seines Parteikollegen, des Juristen Horst Eylmann (seinerzeit Vorsitzender des Rechtsausschusses im Bundestag), der nach Bekanntwerden der Schwarzgeldaffäre Kohls im Jahr 2000 sachlich und deshalb zugleich umso verheerender urteilte: „Helmut Kohl befindet sich im Zustand des permanenten Verfassungsbruchs. Und dieser Verfassungsbruch, den er begeht, dauert jeden Tag länger an, solange er nicht die Spender bekannt gibt. " Zwar hatte der ehemalige Kanzler mit dem unglaubwürdigen Konstrukt, er habe den Geldgebern unter Zusicherung seines Ehrenwortes (Wolfgang Schäuble darüber definitiv: „Es gibt kein Ehrenwort!") garantiert, ihre Namen zu verschweigen - folglich müsse er das Vertrauen wahren, dürfe die Spender nicht preisgeben -, sich vom Transparenzgebot des Grundgesetzes dispensiert. Exakt dadurch macht sich Kohl jedoch zum notorischen Verfassungsbrecher. Noch immer hat er die Offenlegung der Herkunft jener dubiosen Parteispenden nicht verwirklicht.
Wenn Kohl nun ein weiteres Mal sein politisches Handeln, besonders seine angeblich grundlegenden Verhandlungen zur Wiedervereinigung Deutschlands unter die Kategorie des Vertrauens stellt, sucht er sich damit ein Prinzip zu schaffen, das der Verfassung und dem Rechtsstaat übergeordnet sei, sodass auch seine Vertrauensleistung in Sachen der verfassungswidrigen Parteispenden dieselbe Unantastbarkeit besitze. An den Darlegungen zum Thema „Vertrauen" in seinen Memoiren, auch an Kohls entrüsteter Ablehnung von „Verrat", werden die Nachwirkungen des genannten Verdikts kenntlich. Kohl stilisiert in der Rückschau sein politisches Leben zum großen „Vertrauensbeweis" um. Genau diese Apologetik aber verringert den geschichtlichen Quellenwert der „Erinnerungen 1982-1990" erheblich.
Das wird auch ersichtlich an Kohls Sucht der Diskreditierung seiner politischen Weggefährten. Wieder erhebt er sich zum transtheologischen KardinalGroßinquisitor, der sein Anathema gegen Kritiker, Abweichler, Denunzianten, Intriganten, Verschwörer, Umstürzler und Verräter schleudert. Seine politische Exkommunikation richtet sich vornehmlich gegen Biedenkopf, Blüm, Geißler, Kiep, Späth, Süssmuth und Weizsäcker. Schließlich inthronisiert sich Kohl auch noch als staatsmännischer Übergott, zumal seine segnende Hand übel zerbissen worden sei. Kein Wunder, dass er vieles in eigener Person leisten musste und folgerichtig als sein eigener Baldachinträger, Weihrauchfassschwenker, Schleppenträger und Chor fungiert. Die Erwartung der Öffentlichkeit, vielmehr Kohls Authentizität kennen zu lernen, bleibt bestehen.
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