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Zur Rechtschreibreform 
Hörerbrief an Klaus Kastan B2radio am 02.08.99 

 

Die Rechtschreibreform (Rechtschreibreform) eventuell im Tagesgespräch (TG)

Sehr geehrter Herr Kastan, 

am Schluß des heutigen TG’s „drohten“ Sie mit der Rechtschreibreform als nächstes Thema. In Sachen deutscher Sprache bin ich zwar bereits im Vorstadium des Resignierens; aber ich bekam einen kleinen Stoß, stark genug um Ihnen zu schreiben. Dennoch bin ich ständiger Zuhörer Ihrer Sendung, manchmal mit Frust, meistens mit Gewinn.

Die Rechtschreibreform war m. E. seit Jahren, jedenfalls in Anbetracht des Ergebnisses, ein Streit um des Kaisers Bart. Für die meisten Schreiber war die richtige Schreibung der kritischen Wörter und Wendungen schon bisher Glücksache, wie sie Gernot Sittner in der heutigen SZ in der Wahl „der korrekten Zeitenabfolge in Haupt- und Nebensätzen für manche Autoren“ sah. Auch in Zukunft werden wir alle mit der rechten Schreibung unsere Not haben und vielen wird die mehr oder weniger vollständige Änderung der Schreibung von Agenturen und Redaktionen allenfalls dann auffallen, wenn Dasse und Schifffahrten im Schriftbild auftauchen, bis irgendwann die Gewöhnung eingetreten ist. Mit Sittner meine ich, es muß der Revisionstermin in sechs Jahren auch für die jetzt (im Reformstreit) Unterlegenen kein schwarzer Tag werden.

Doch die dunkle Farbe wird von anderer Seite in das Sprachgeschehen gepinselt. Sprachbewußte erleben jeden Tag als schwarzen, wenn sie Zeitung lesen, Rundfunk und Fernsehen hören. In den Medien sind nicht nur die denglischen, sondern vor allem die rein deutschsprachigen Sprachverhunzer und -vernebler ständig aktiv und geben leuchtendes Beispiel für den Normalbürger, es gleich zu tun. Sie merken nicht einmal, was sie anrichten, und wenn doch, dann ist es ihnen gleichgültig in der Annahme, man würde doch verstehen, was gemeint ist. Dolmetscher klagen darüber, daß sie oft nicht wüßten, was sie übersetzen sollen.

An B5 Aktuell habe ich u. a. wegen der Modefloskel „davon ausgehen“ etwa 10mal geschrieben, an die SZ insb. wegen des falschen Gebrauchs von mehrfach und Worte statt mehrmals bzw. Wörter 294 (!) mal.  Ab der Briefnummer 300 werde ich das Endstadium meiner Resignation feiern und schweigen, obwohl von manch’ einsichtigem Journalisten immer wieder ermuntert.

Auf die falsche und irreführende Erläuterung von mehrfach und sich bedanken im Duden hingewiesen antwortete mir die Sprachberatungsstelle des Dudens mit dem Eingeständnis:

"Entsprechend den Belegen in der Sprachkartei werden die Wörter mehrmals und mehrfach aus Unwissen, Ungenauigkeit oder Unverständnis für austauschbar, für synonym gehalten. Bei der Wahl zwischen dem Sprachgebrauch und dem Erfordernis, semantische Unterschiede hervorzuheben, die von den Sprechern kaum noch wahrgenommen werden, entscheidet sich der Lexigraph für den Sprachgebrauch. Er registriert dabei manche Bildung (z. B. sich bedanken), die er selbst vielleicht überflüssig findet, die aber dennoch lebendig ist, Teil des deutschen Wortschatzes ist und Eingang in ein Wörterbuch finden muß. Wir hoffen, daß Sie nun verstehen, warum manche Wörterbuchartikel widersprüchlich, ungenau oder "umgangssprachlich" formuliert scheinen mögen. In Wirklichkeit geben sie nämlich  genau und konsequent einen Sprachzustand wieder, den als "verfallend" (!) zu kritisieren nicht unsere primäre Aufgabe ist."

Die Sprachberatungskompetenz des Duden basiert also auf dem statistischen Auswerten der Umgangssprache einschließlich des Unsinns, der sich in ihr ausbreitet. Wer klärt nun den Bürger auf, wenn seine Sprachschöpfungen (z. B. die neue Modefloskel von etwas ausgehen) die Ausdruckskraft der Sprache verringern oder gar unsinnig sind? Wer sorgt für eine klare Sprache in den Schulen, etwa die Kultusministerien? (Im Bayerischen Finanzministerium kennt man nicht einmal den Unterschied zwischen den Formulierungen um das Zweifache   und  auf das Zweifache mit gravierenden Folgen für das Rechenergebnis.) Auch andere  Wörterbuchverlage, Sprachinstitutionen und Sprachexperten, halten sich offenbar nicht für zuständig, solange geregelt ist, wie daß geschrieben wird.

Bei der Feier aus Anlaß der 500. Sendung des TG’s befragte ich die zwei Schüler, einst Gäste des TG’s, zu verschiedenen im allgemeinen falsch verwendeten Wörtern und Begriffen. Das Ergebnis war ernüchternd. Keiner wußte Bescheid. Demnach versagt die Spracherziehung in der Schulde oder sogar schon bei der Lehrerausbildung.

An Ihre Redaktion habe ich am 14.05.98 in Sachen deutscher Sprache geschrieben. Mit mäßigem Erfolg.

Mit freundlichen Grüßen, auch an die Damen und Herren der TG-Redaktion
Ulrich Werner 

Anlage folgend:

Anleitung zum Verhunzen der deutschen Sprache

1.  mehrfach statt mehrmals

2.  Worte statt Wörter

3.  scheinbar statt anscheinend

4.  davon ausgehen statt annehmen, erwarten, erhoffen, glauben, vermuten, voraussetzen, der Ansicht sein, schätzen, voraussagen, betragen, damit rechnen, unterstellen und viele andere

5.  -fähig statt -bar bei Verbableitung oder -tauglich, -geeignet, -würdig etc. bei Substantivableitung

6.  x-mal größer (höher, weiter etc.) statt x-mal so groß wie (hoch, weit etc.)

7.  x-mal kleiner (niedriger, näher etc.) statt Bruchangabe (1 x-tel) oder %-Zahl

8.  sich bedanken statt danken

9.  bzw. statt  oder oder genauer gesagt

10.  Quantensprung statt große Leistung

11.  in etwa statt etwa

12.  Glückwunsch statt Anerkennung

13.  Verbalsubstantiv statt substantiviertem Verb 

14.  weil ich habe Hunger statt weil ich Hunger habe

15.  wirklich (echt, tatsächlich) statt sehr, wenn nicht überflüssig

16.  ich würde sagen (meinen, glauben etc.) statt ich sage (meine, glaube etc.)

Erläuterungen auf Anfrage

Die Anleitung kann auch dazu dienen, die hervorgehobenen Wörter und Begriffe zu verwenden, falls Interesse besteht, die Ausdruckskraft der deutschen Sprache zu erhalten.

 



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