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Leserbrief zu "Willenloser Hirnapparat"
Der falsche Triumph der Neurologie über das Strafrecht - Von Rainer Maria Kiesow (3.5.07)

SZ vom 12.6.2007, gekürzt veröffentlicht

Die mit neurowissenschaftlichen Erkenntnissen begründete Forderung nach einer Abschaffung des Strafrechts findet sich mit schöner Regelmäßigkeit in den Printmedien, im Wesentlichen vorgebracht von Gerhard Roth und mehr oder weniger kritisch journalistisch aufgearbeitet. Umso erfreulicher ist es, auch einmal eine pointierte Darstellung aus rechtswissenschaftlicher Sicht lesen zu dürfen, die die von Roth vertretene Position in ihren Auswirkungen auf das Strafrecht, aber auch auf unser Menschenbild reflektiert.

Abgesehen davon, dass die Frage nach der Willensfreiheit wohl kaum in simplen ja/nein bzw. Indeterminismus/ Determinismus Kategorien erörtert werden kann, stellt sich die Frage, ob G. Roth tatsächlich eine gesicherte und unumstößliche Position der Neurologie oder der Neurowissenschaften vertritt bzw. vor dem Hintergrund des aktuellen Sachstandes überhaupt vertreten kann? Die Antwort lautet nein. Roth vertritt, wenn auch mit großer öffentlicher Wirksamkeit, nur eine Position neben anderen. Dass die Heterogenität der Befunde und Befundinterpretationen kaum wahrgenommen wird, dürfte daran liegen, dass die neurowissenschaftliche Debatte weniger im Feuilleton als in der Fachpresse stattfindet. Bezüglich der von Roth gern zitierten Libet-Versuche, welche die Existenz eines freien Willens widerlegen sollen, sind allerdings ganz und gar nicht „keine Zweifel“ vorhanden. Ein „wir wissen jetzt“ kann in Zusammenschau der Befunde eben nicht behauptet werden. Auch weitere, mit bildgebenden Verfahrend durchgeführte Studien werden von vielen Neurowissenschaftlern allenfalls als hinweisend und nicht als beweisend gewertet. G. Roth sollte daher nicht als der Vertreter der Neurowissenschaften, sondern allenfalls als ein sich zum Thema in der Öffentlichkeit äußernder Wissenschaftler gesehen werden.

Darüber hinaus können die neurobiologischen Befunde zwar dahingehend interpretiert werden, dass entwicklungsgeschichtlich ältere Hirnregionen wesentlich zu Verhaltensbereitschaften beitragen, dass dabei auch Erinnerungen an Erlebtes und Gefühle eine wesentliche Rolle spielen und dass solche Abläufe nicht immer bewusst wahrgenommen oder kontrolliert werden. Wir werden also stärker von Emotionen oder Erlebtem beeinflusst als uns bewusst ist. Jedoch ergibt sich, bevor man überhaupt über die wesentlich abstraktere Frage der Willensfreiheit diskutieren kann bzw. will, durch diese Erkenntnisse zunächst einmal der Bedarf, darüber zu diskutieren, ob und inwiefern man vermeintlich dem Individuum zuschreibbare rein seelische Fehlentwicklungen von psychischen Krankheiten im engeren Sinne (also vermeintlich persönlichkeitsunabhängigen, rein biologischen Funktionsstörungen)  trennen darf. So konnte z.B. für eine Subgruppe von Gewaltstraftätern in für die Gefühlswahrnehmung und –ausprägung relevanten Hirnregionen eine reduzierte emotionale Ansprechbarkeit registriert werden, die durchaus in Verbindung zu ihrer Gewaltbereitschaft stehen könnte. Durch solche Befunde ist jedoch keineswegs alles geklärt.

Vielmehr bestehen enge Wechselwirkungen zwischen z.B. genetischen und sozialen Einflußgrößen, die man am ehesten im Sinne eines Streß-Vulnerabilitäts-Modells interpretieren sollte: Es gibt Menschen mit ungünstigen oder defizitären biologischen Ausgangsbedingungen. Werden diese Menschen zusätzlichen sozialen Belastungen unterworfen, erhöht sich das Risiko von Fehlverhaltensweisen. Weder Biologen noch Soziologen werden dieses komplexe Bedingungsgefüge menschlicher (Inter-)aktionen allgemeingültig aufklären können.

Und selbst wenn weitere biologische Einflußgrößen auf menschliches Handeln bekannt werden, womit zu rechnen ist, wäre dies immer noch kein zwingender Grund für Änderungen des Straf- und Zivilrechts. Für die Juristen scheint es nämlich aus guten Gründen weniger um abstrakte Debatten über die Willensfreiheit zu gehen, sondern um die konkrete Analyse von Motiven, Herkunft und Beweggründen delinquenten Handelns.

Aus den bisherigen neurobiologischen Befunden lässt sich lediglich schließen, dass auch bei sexuellen Abweichungen und  Persönlichkeitsauffälligkeiten biologische Faktoren zu den Motiven und Beweggründen des Handelns beitragen. Aber ist das, z.B. bezüglich sexueller Handlungen wirklich überraschend oder irgendjemandem neu? Hier verdeutlicht sich, dass der Jurist nach wie vor das gute Recht hat, wertend zu beurteilen, ob bei einer strafbaren Handlung Faktoren eine Rolle gespielt haben, durch die Urteils- und Hemmungskräfte des Täters erheblich vermindert waren.

Hier geht es nicht um eine kategoriale ja/nein Entscheidung, sondern darum, den Schweregrad von Leistungseinschränkungen und das Ausmaß von Handlungsspielräumen abzuschätzen. Diese komplexe Arbeit kann nur in seltensten Fällen auf der Basis eines Bildgebungsbefundes geleistet werden. Sie erfordert vielmehr eine genaue Analyse der Biographie eines Delinquenten unter Berücksichtigung seiner Möglichkeiten und Grenzen. Es geht also um Graduierungen der Entscheidungs- bzw. Handlungsfreiheit, wobei die Spielräume nach einer schweren Hirnverletzung sicherlich enger gesteckt sind als bei einer wie auch immer gearteten sexuellen Normabweichung. An dieser schon intuitiv nachvollziehbaren Einschätzung ändern auch die aktuellen Befunde nichts. Sie öffnen jedoch den Blick für subtilere biologische Abweichungen und könnten bei zurückhaltender und nicht vorwiegend nach öffentlicher Resonanz heischender Darstellung nicht zuletzt im Interesse Betroffener ein vertieftes Verständnis für die Hintergründe normabweichenden Verhaltens aber auch Behandlungsperspektiven eröffnen.

PD Dr. med. Elmar Habermeyer, Rostock und
Dr. med. Wolfram Kawohl, Zürich

Elmar Habermeyer ist Ltd. Oberarzt der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie · Forensische Psychiatrie (DGPPN-Zertifikat) · Zentrum für Nervenheilkunde der Universität Rostock

Wolfram Kawohl ist Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie und Oberarzt der offenen Modellabteilung für integrierte Versorgung.



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