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Selig sind die Armen
 Zum verordneten schönsten Wort „Habseligkeiten“
Von Erhard Glier

Deutsche Sprachwelt Ausgabe 21 Herbst 2005

Die Wahl eines „schönsten Wortes der deutschen Sprache" kann für jeden Freund der deutschen Sprache immer nur eine Entscheidung seines ureigensten Geschmacks sein. Daher bedarf sie keiner Begründung - „Etwas gefällt mir, oder es gefällt mir nicht; über andere ästhetische Kriterien verfüge ich nicht", meinte sogar so ein Wortmächtiger wie Anton Tschechow -, und insofern ist sie auch reine Privatsache.

Wenn nun aber diese Privatsache zu einer öffentlichen, gar gesamtsprachgemeinschaftlichen Angelegenheit gemacht wird, und zwar mit dem für deutsche öffentliche Angelegenheiten kennzeichnenden ganzen Brimborium, einschließlich einer über allem thronenden „Fachjury", wie sie ein beflissenes Feuilleton zu bezeichnen beliebte - dann ist Skepsis, ja Mißtrauen nicht nur angebracht, sondern geboten. Wenn ferner diese Fachjury für die Wahl Begründungen einfordert und sich dann anmaßt, diese in das Prokrustesbett ihres kollektiv erarbeiteten ästhetischen Maßstabs zu pressen und das Ergebnis davon der Sprachgemeinschaft als deren „schönstes Wort" aufs Auge zu drücken - dann kann das nur an den Baum gehen.

Eine solche Jury - mit dem großen Textemacher deutscher Zunge Herbert Grönemeyer und der Präsidentin des Goethe-Instituts Jutta Limbach, einer Vertreterin der für ihr exzellentes Deutsch allgemein bewunderten Juristen (der übrigens das für die jetzige beklagenswerte Rolle des Goethe-Instituts entlarvende Wort „Englisch muß, Deutsch kann" zugeschrieben wird) - hat also „Habseligkeiten" zum „schönsten Wort der deutschen Sprache" ausgerufen und will, daß es nun Volkes Eigentum werde, weil ihr „die Begründung so gut gefallen hat". Sind wir damit nicht wieder bei Tschechow, der ja auch für gut befand, was ihm gefiel? Ganz und gar nicht! Tschechow war sicher nicht so vermessen, sein eigenes Urteil in den Rang eines für alle geltenden Urteils zu erheben. Und im Sinne Tschechows wehre ich mich gegen dieses Zwangsurteil und seine Zumutung, „Habseligkeiten" als schönstes deutsches Wort zu akzeptieren.

Dafür habe ich mehrere Gründe. Der erste, ein objektiver Grund, ist die von der „Fachjury" akzeptierte sowohl aussagenlogische als auch etymologische Fragwürdigkeit der von Frau Doris Kalka aus Tübingen stammenden Begründung: „Das Wort bezeichnet nicht den Besitz, nicht das Vermögen eines Menschen, wohl aber seine Besitztümer, und es tut dies mit einem freundlich-mitleidigen Unterton, der uns den Eigentümer dieser Dinge sympathisch und liebenswert erscheinen läßt... Lexikalisch gesehen verbindet das Wort
zwei Bereiche unseres Lebens, die entgegengesetzter nicht sein könnten: das höchst weltliche Haben, das heißt den irdischen Besitz, und das höchste und im irdischen Leben unerreichbare Ziel des menschlichen Glücksstrebens: die Seligkeit. Diese Spannung ist es, die uns dazu bringt, dem Besitzer der Habseligkeiten positive Gefühle entgegenzubringen, wie sie gemeinhin den Besitzern von Vermögen und Reichtümern oder Eigentümern von Krempel, Gerümpel und Altpapier versagt bleiben". Die „Fachjury" bezeichnete dieses unsägliche Wortgeklingel als „poetisch-philosophisch" und belohnte die Einsenderin mit einer Reise nach Mauritius. Die sei ihr gegönnt...

Aussagenlogisch insofern: Nicht nur, daß ich die Leute nicht mag, die mir kostbare Zeit stehlen, indem sie am Anfang ihres Sermons des langen und breiten auseinandersetzen, was er alles nicht bezweckt, ich mag auch Begriffsbestimmungen nicht, die mir erklären, was ein Ding nicht ist, während mich brennende Neugier treibt zu erfahren, was es denn nun eigentlich sei. Schon diese allen Definitionsübungen aus Schulzeiten hohnsprechenden Negativformulierungen hätten eine Fachjury (ohne „") diese Begründung ablehnen lassen müssen, zumal in ihr außerdem völlig unverständlicherweise die Synonyme „Besitz" und „Besitztümer" einander entgegengesetzt werden.

Etymologisch insofern, als die „Fachjury" in der Fortsetzung der Begründung außer acht gelassen hat oder, schlimmer noch, noch nicht einmal gewußt zu haben scheint, daß sich „Habseligkeiten" mitnichten aus „Haben" und „Seligkeit" zusammensetzt. Es ist vielmehr eine Modifikationsbildung - mittels der Suffixe „-igkeit" (wie bei „Sanftmut" > „sanftmütig" > „Sanftmütigkeit") unter Umlautung - von dem ausgestorbenen Wort „Habsal", das in die Reihe „Drangsal", „Mühsal", „Rinnsal", „Scheusal", „Schicksal", „Trübsal" oder „Wirrsal" gehörte - alles Wörter, die sehr negative Empfindungen auslösen (außer vielleicht „Labsal", aber auch dem ist ja eine unangenehme Durststrecke vorausgegangen...). Mit der „Seligkeit", die Einsenderin und Jury als „freundlich", „sympathisch" und „liebenswert" empfanden, haben die „Habseligkeiten" nicht das geringste zu tun! Die Gewinnerin des Wettbewerbs trifft hieran natürlich keine Schuld, sie hat lediglich eine klassische Volksetymologie geliefert - und die „Fachjury" ist voll darauf abgefahren oder hereingefallen! Aber der für mich eigentliche, der wissenschaftliche Skandal ist der, daß die Germanisten (ich bin zum Glück Slawist) nicht einmütig aufgeschrien haben ob so viel etymologischer Ignoranz. Oder sollte ich bei meinen Wanderungen durchs Internet und das deutsche Feuilleton unter all den ahnungslosen Zustimmungen ahnungslose Ablehnungen erfahren haben?

Der zweite, ein subjektiver Grund ist der, daß für mich als Kriegskind des Jahrgangs 1934 unsere „Habseligkeiten" der schäbige Rest unserer „Besitztümer" waren, die armselige Habe, die wir, von einem feindseligen Schicksal zu Ausgebombten, Flüchtlingen und Vertriebenen gemacht, in Trübsal mühselig durch die Wirrsal jener Zeit zu retten versuchten, und das oft auch noch vergebens... Dies das schönste deutsche Wort?! Für mich dreimal nicht!

Ich würde „Erbarmen" wählen oder „Liebreiz". Vielleicht sollte ich dann, zur Begründung gezwungen, sogar ebenfalls volksetymologisch argumentieren und etwas von „erblich gnädigen Armen" und von „reizender Liebe" daherreden, „damit (mich) die Masse auch versteht", wie es in Michail Sostschenkos „Kuh im Propeller" so hübsch heißt, so daß also eine „Fachjury" meinen Unfug gutheißen könnte! Dabei besteht, wie wir wissen, zwischen „Armen" und Erbarmen" doch derselbe etymologische Zusammenhang wie zwischen „Hund" und „hundert".

Man hätte lieber folgendes machen sollen: fragen, welches (nur eine!) Wort jeder Deutschliebhaber als sein schönstes empfindet, ohne mühselige Begründung. Ein technisch gut ausgestattetes germanistisches Institut hätte alles durch seine Rechner gejagt und geguckt, was dabei herauskommt. Danach hätte diese Aussage getroffen werden können: „Für die meisten Deutschen und Freunde des Deutschen gilt Xyz (zur Zeit!) als das schönste deutsche Wort. Auf den weiteren Rängen folgen ...". Das hätte genügt, und man hätte sich allenfalls über die Rangfolge ereifern können, zumal dann, wenn „geil" unter die ersten zehn schönsten Wörter geraten wäre. was manchem zwar nicht gefallen hätte, aber als objektives Auswertungsergebnis unanfechtbar gewesen wäre. Eine Jury hätte ruhig ihr subjektives Verdikt darüber fällen können, geändert hätte das nichts.

Übrigens wird derselbe Unfug ja auch bei der Festlegung des „Wortes des Jahres" und des „Unwortes des Jahres" getrieben. Statt sich auf die Zählung dessen zu beschränken, was „Volkes Stimme" vorgibt, drängen sich angemaßte Kompetenzler in das Verfahren und schreiben dem Volk vor, was es dank ihrer kollektiven Weisheit eines Sprachpolitbüros als Wörter und Unwörter - oder „Rechtschreibreformen"! - zu schlucken hat.

Aber schließlich kann ich dem Ganzen doch dieses Gute abgewinnen: Ich freue mich für und mit Frau Doris Kalka, daß „Habseligkeiten" ihr schönstes deutsches Wort sein kann, denn aus ihrer Begründung scheint ihre Zufriedenheit mit einem lange ununterbrochenen Frieden hervor, die fröhliche Freude daran, mit ihrer in dieser Zeit erworbenen Habe selig sein zu können. Es möge noch lange so bleiben! So gesehen, hat dieser Deutungswandel von „Habseligkeiten" dann sogar schon wieder etwas Tröstliches, geradezu in die Zukunft Weisendes...

Dies noch am Rande: „Deutungswandel" weckt natürlich die Frage, wann den Deutschen in ihrer Sprachgeschichte das Verständnis für die Bedeutung von „-sal" und „-seligkeit" abhanden gekommen ist, so daß sie begannen, „Seligkeit" in der Tat mit der „Seele" in Verbindung zu bringen, und solche schönen Wörter wie „holdse(e)lig", „glückse(e)lig" und gar „gottse(e)lig" schufen. In Schriften aus dem 18. und 19. Jahrhundert habe ich sehr oft diese wechselnde Schreibweise, und natürlich „Seeligkeit", gefunden - daher würde es mich interessieren, wie oft heute („noch heute" oder „gerade heute"?) Deutschlehrer bei ihren Schülern das zweite „e" „anstreichen" müssen...

Wilhelm Deinert kritisiert die Wahl:

Wohllaut -  Ein schönstes deutsches Wort, Deutsche Sprachwelt Ausgabe 21 Herbst 2005

 



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