Deutschland auf dem Weg zur Kleinkaro-Republik
München, den 1.3.2007
Der Doktor bleibt im Paß
Unter dieser Überschrift berichtete die SZ am 28. Februar, laut stellvertretendem Regierungssprecher Thomas Steg habe das Kabinett einen entsprechenden Plan für das Paßgesetz ohne Aussprache gebilligt. Die Durchwinkgemeinde im Bundeskabinett wurde offensichtlich durch die Behauptung argumentativ überwältigt, es entspräche „deutschsprachiger Kulturtradition und „jahrzehntelanger Verwaltungspraxis.
Für den Eintrag des Doktorgrades im Paß gibt es keinen einzigen sachlichen Grund - aber mindestens 10 dagegen!
Ist Deutschland im Begriff, auf die Ebene einer Kleinkaro-Republik abzurutschen? Werden bei Eitelkeitsbelangen alle für das logische Denken zuständigen Gehirnareale im Cortex nicht mehr durchblutet? Was soll das Gerede von Globalisierung, Innovationen, technischem Fortschritt, wenn gesellschaftspolitisch alles so bleibt wie bisher? Hat sich die seit einiger Zeit gewaltig angestiegen Belastung der Verwaltungsbehörden durch die Doktor-Eintragungen im Paß plötzlich in Luft aufgelöst?
Das Bundeskabinett hat nicht erkannt, daß es mit seinem „Durchwinken des Antrages des Bundesrates
1. als Therapeut für komplexbehaftete Akademiker tätig geworden ist, 2. den BGH als Dorfjustiz behandelt, 3. den Titelhandel fördert, 4. den Gleichheitsgrundsatz mißachtet, 5. den beklagten hohen Verwaltungsaufwand beibehält, 6. den Doktorgrad nivelliert, 7. Vorurteile bestärkt und verbreiten hilft, 8. amtliche Dokumente für erkennungsdienstfremde Angaben mißbraucht, 9. mit dem Doktorgradkürzel (Dr.) eine wenig aussagekräftige Information mit lebenslanger Wirkung bestätigt und 10. erneut seine Trägheit beim Erkennen der Erfordernisse der Gegenwart beweist.
Zu 1. Therapeut für komplexbehaftete Akademiker Ein Klinikchef im Saarland hat von seinen Ärzten verlangt, sich gegenseitig mit dem Doktorgrad anzureden, um das Ansehen der Klinik zu heben. Anscheinend erkannte er das Fehlen von fachlichen Qualifikationen und Selbstbewußtsein seiner Mitarbeiter. Ich habe ihm empfohlen, statt dessen die Erfolgsstatistik der Klinik zu veröffentlichen. Wer im späteren Leben ohne Leistung geblieben ist, möchte wenigstens seinen Doktor herzeigen können; so bleibt er auf höherer Stufe der Anerkennung seiner Person.
Zu 2. der BGH als Dorfjustiz Der BGH hat 1962 festgestellt, daß Doktorgrade kein Bestandteil des Namens sind. Länderregierungen haben das Urteil mit Billigung der Bundesregierung jahrzehntelang ignoriert. In einem Verfahren vor dem Bayerischen Verwaltungsgericht in München (1981) hat auch die Landesanwaltschaft die an sich triviale Behauptung bestätigt, daß akademische Grade nicht zur Identifizierung einer Person erforderlich sind. Sie schlug sogar vor, den Doktorgrad nicht im Paß aufzunehmen. Auch Juristen fiel kein schlüssiges Argument für diesen Mißbrauch eines Dokumentes ein, das ausschließlich zum Identifizieren einer Person dient.
Zu 3. Förderung des Titelhandels Tageszeitungen und Internet bieten ständig akademische Grade und Titel zum Kauf an. Sogar Während der Amtszeit von Franz-Josef Strauss als Ministerpräsident war Lothar Bossle, der "Professor mit dem schlechten Ruf", wie er in der "ZEIT" vom 3.10.1991 bezeichnet wurde, sehr erfolgreich mit dem kurzfristigen Beschaffen von Doktorgraden für CSU- und andere Freunde, sogar aus dem Ausland. Er mußte das einträgliche Geschäft, seine Frau sorgte für den Druck der Dissertationen, aufgeben. Die Doktorgrade stehen jetzt im Paß seiner ehemaligen Kunden. Seit einiger Zeit sind Doktorgrade aus östlichen Ländern einem Bericht der SZ nach bei Abgeordneten des Landtages begehrt. Die Titelhändler werden sich die Hände reiben. Die Zahl der Titelwünsche wird steigen.
Zu 4. Mißachtung des Gleichheitsgrundsatzes Die früher fast uneingeschränkt geltende Ansicht, der Doktorgrad, in der Umgangssprache oft als Doktortitel bezeichnet, sei Bestandteil des Namens, hat offenbar den Gleichheitsgrundsatz nach Artikel 3 GG außer Kraft gesetzt. Die Ansicht, eine Dissertation erfordere eine wesentlich größere wissenschaftliche Leistung als ein Diplomabschuß ist längst nicht mehr begründet. Viele Akademiker, bspw. Juristen, haben ein komplettes Studium absolviert, ohne danach den Doktorgrad erworben zu haben. Auch die Zahl der Ärzte steigt, die sich ohne Doktorgrad niederlassen und mit dem Verdacht fertig werden (müssen), kein vollwertiger Arzt zu sein. Außerdem war es möglich, und es wurde auch entsprechend genutzt, ohne Staatsexamen zu promovieren. Die genannten Personen genießen alle zunächst automatisch ein minderwertigeres Ansehen als Promovierte.
Zu 5. Beibehaltung des beklagten hohen Verwaltungsaufwandes Das Eintragen von Doktorgraden erhöht den Verwaltungsaufwand der Meldebehörden beträchtlich, vor allem wegen der Vielzahl illegal erworbener Grade. Der Bundesregierung scheint die EU-Verordnung willkommen zu sein. Gibt sie doch gegen übertrieben traditionsverhafteten Länderregierungen ein gutes Argument, den Behörden das Ausstellen von Pässen und Ausweisen zu erleichtern. Doch wenn es um die Eitelkeit der Menschen geht, spielen Kosten und Aufwand in der Verwaltung keine Rolle mehr, obwohl ständig von Verwaltungsvereinfachung die Rede ist. Im Bereich von Großstädten wie München ist es üblich, daß Träger eines frischen Doktorgrades sich in einem Ort des Umkreises anmelden und dort einen Paß beantragen, wo die Prüfung des wer weiß wo erworbenen (ausländischen) Doktorgrades nicht so streng ist wie in München. Nach Erhalt des neuen Passes kehrt der Herr Doktor nach München zurück. Die bisher geübte Praxis in den Meldebehörden ist staatlich verordnete Willkür!
Zu 6. Nivellierung des Doktorgrades Die pauschale Bezeichnung einer angeblich besonderen wissenschaftlichen Leistung läßt diese Leistung auch nicht im Ansatz erkennen. Dissertanten mit trivialen Erkenntnissen in ihrer Arbeit und sogar solche mit gekauften Graden werden gesellschaftlich genauso aufgewertet wie jemand, der eine nachweislich herausragende Leistung erbracht hat. Auch das Verschweigen der Fakultät nebelt die angeblich besondere wissenschaftliche Leistung ein. Es kann sich kein Promovierter dagegen wehren, daß ihm die Frage gestellt wird, stammt etwa die Dissertation zum Thema „Penisverletzungen bei Masturbation mit Staubsaugern" von ihnen?
Zu 7. Bestärkt Vorurteile und hilft sie zu verbreiten Das vor mehr oder weniger langer Zeit mit Dissertation und Rigorosum erfolgreich abgeschlossene Studium ist keine Garantie für auch im späteren Leben erbrachte Leistungsfähigkeit und -bereitschaft. Das lebenslang automatische Hervorheben des Doktorgrades als Zeichen der Promotion gegenüber anderen Mitbürgern und Leistungsträgern der Gesellschaft ist daher nur Ausdruck und Bestärkung des Vorurteils, nämlich der immer noch weit verbreiteten Meinung, der Herr Dr. Meier könne, wisse und leiste mehr als der Herr Meier, und zwar bis zum Beweis des Gegenteils. Es widerspricht den Grundsätzen einer demokratischen Gesellschaft.
Zu 8. Amtliche Dokumente werden für erkennungsdienstfremde Angaben mißbraucht In Ergänzung zu den Darlegungen zu 1.: Auch Juristen fiel kein schlüssiges Argument für diesen Mißbrauch eines Dokumentes ein, das ausschließlich zum Identifizieren einer Person dient. Warum sollten dann nicht auch andere Fähigkeiten und Eigenschaften der Person wie Führerschein und PC-Kenntnisse bzw. Haarfarbe im Paß vermerkt werden?
Zu 9. mit dem Doktorgradkürzel (Dr.) wird eine wenig aussagekräftige Information mit lebenslanger Wirkung bestätigt Mit Angabe der zwei Buchstabenden (Dr.) wird der Doktorgrad verstümmelt. Nicht einmal das Sachgebiet läßt das Kürzel erkennen, das durch die angeblich besondere „wissenschaftliche Leistung" bereichert worden ist. Das Paßdokument wird von denjenigen als Leistungsbeweis mißbraucht, die außer ihrer Dissertation mit unbekanntem und nicht selten geringem Wert in ihrem späteren Leben keine anerkennenswerten Leistungen mehr vorweisen können. In den Büchern von Achim Schwarze über die „Dünnbrettbohrer in Bonn" kann sich jedermann über diese "besonderen wissenschaftlichen Leistungen" der Politiker in Bonn informieren. Oft reicht auch Sammlung von Floskeln und inhaltsleeren Allgemeinheiten aus, um einen Doktorgrad als lebenslange Verzierung des Namens zu erhalten. Selbst der Bruch des Amtseides eines Bundeskanzlers konnte nicht bewirken, daß ihm die akademische Würde aberkannt wurde, was bei einem derart gravierenden Vergehen möglich ist und angebracht gewesen wäre. Wenn alle "besonderen wissenschaftlichen Leistungen" wie die bspw. von Nobelpreisträgern, Erfindern und Wissenschaftlern aller Gebiete ihren Niederschlag im Paß finden sollten, dann wäre ein Beiblatt für den Paß erforderlich.
Zu. 10. Erneuter Beweis für die Trägheit beim Erkennen der Erfordernisse der Gegenwart Im täglichen Gebrauch findet die Bedokterung des Namens allenfalls noch in Provinz-, Orts- und Vereinsblättern statt, auch in Abhängigkeitsverhältnissen bei Vorgesetzten ohne Selbstbewußtsein sowie aus Anbiederei und Furcht vor Nachteilen. In allen Medien wird der akademische Grad jedoch regelmäßig ignoriert. Der überflüssige und unbegründete Paßeintrag ist kein "bildungs- und gesellschaftspolitisches Signal", sondern es konserviert eine längst nicht mehr allgemein verbreitete Tradition. Ein "bildungs- und gesellschaftspolitisches Signal" würde aus aktuellem Anlaß und dem Zeitgeist entsprechend folgenreicher darin bestehen, daß mehr Mittel für Schulen und Universitäten bereitgestellt werden.
Ich schlage vor, den im Bundesrat initiativ gewordenen Ländern Bayern und Thüringen einzuräumen, den Doktor im Paß einzutragen. Der zu erwartende Doktor-Eintrag-Tourismus wird in den Städten und Gemeinden dieser Länder bald einen derart großen Verwaltungsaufwand erfordern, daß sie von der Bedienung der Eitelkeit abrücken werden.
Ulrich Werner
Der Artikel wurde an alle Abgeordnete des deutschen Bundestages geschickt.
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