Wer in unserer modernen Gesellschaft keinen Titel hat, also irrgläubig nicht erwarten darf, mit „Herr Doktor“ angeredet zu werden, ist arm dran, es sei denn, er ist selbstbewusst, prominent, sehr groß oder aus einem anderen Grund auffällig. Sonst hilft ihm nur ein Titel. Denn nach einem weit verbreiteten Vorurteil weiß, kann und leistet ein Herr Dr. Meier mehr als ein Herr Meier, so jedenfalls die Meinung des Volkes. Das traditionelle hohe Ansehen der Titelträger ist nach deren eigener Auffassung ein hohes Kulturgut, das nach den Erfahrungen der vergangenen 60 Jahre unbedingt zu schützen gilt. Ein weiterer für das Streben nach akademischen Auszeichnungen in den vergangenen Jahren mag am erfreulichen Bildungshunger der Gesellschaft und an besseren Berufschancen mit höheren Verdiensten liegen.
Der höchstgerichtliche Dämpfer
Es ist daher verständlich, dass sich die Promovierten so lange wie möglich gegen die durch die Urteile (BVH und BGH) bewirkte Nivellierung der bisher gern genossenen Höherstufung ihrer Person wehren. Wann und wo ist es schon möglich, mit einem relativ geringen Einsatz einen so wertvollen Gewinn zu erzielen, nämlich jeweils besondere Achtung, Beachtung und soziale Kompetenz? Und, nicht zu unterschätzen, diesen Zustand lebenslang zu genießen, ohne dass es einfach möglich ist festzustellen, ob die akademische Auszeichnung auf anerkennungswerter Leistung beruht oder nur als akademische Leuchtboje für einen erkenntnislosen Hohlraum dient. Es gilt immer noch die universitäre Erlaubnis, den Doktorgrad in Form einer wenig aussagekräftigen Abkürzung (Dr.) anzugeben, d. h. den Gegenstand des Studiums wirksam zu verschleiern (Bayerisches Hochschulgesetz (BayHSchG) Vom 23. Mai 2006 § 67). Die knappe verbale Andeutung (Dr.) ist zwar allgemein bekannt, lässt aber offen, auf welchem Sachgebiet der Titelträger sich (mehr oder weniger erfolgreich) bemüht hat, erwartungsgemäß wissenschaftliche Erkenntnisse zu erarbeiten. Die Gesellschaft vertraut Redlichkeit und Sachkenntnis der Prüfungs-kommissionen, die ihre Prüfungsergebnisse (zu) häufig mit dem Prädikat „summa cum laude“ verkündet, sogar bei Plagiaten, damit aber nicht unbedingt Sachkunde beweist. Im medizinischen Bereich, wo die Dissertationen häufig schon während des Studiums geschrieben wird, ist seit geraumer Zeit geplant, den „Dr. med.“ nur in der Forschungslaufbahn zu vergeben. Bei den Ingenieurwissenschaften herrscht dagegen Offenheit. Wird mit der Angabe der Fakultät (Ing.) auf die besonderen Anforderungen bei der Promotion hingewiesen?
Die Doktorlobby
Ohne Aufsehen in der Öffentlichkeit zu erregen etablierte sich ziemlich bald nach dem BGH-Urteil eine Abwehrfront gegen die Anhänger des Rechtsstaates, oft als Titelgegner diffamiert. Eine Art Doktorlobby verhinderte erfolgreich das Bekanntwerden der Rechsprechung zum Doktorgrad: Medien schwiegen darüber oder ignorierten die Urteile. Öffentliche Diskussionen der Konsequenzen fanden nicht statt. Leserbriefe blieben unbeachtet. Akademischer Schmuck ist immer willkommen, wenn nicht lebenswichtig. Die selten eingestandene persönliche Eitelkeit verdrängt beim Titelwunsch leicht die abstrakte Achtung vor rechtsstaatlichen Prinzipien. Beim Kampf gegen den Verlust der Privilegien übersehen die Titelpfleger, wie sehr sie mit ihrer antiquierten Titelpflege dem internationalen Ansehen Deutschlands schaden.
Obwohl sich viele Promovierte durch meine zahlreichen Berichte hätten getroffen fühlen müssen, hat sich niemand von ihnen darum bemüht, mich von der Wichtigkeit der Titel für die Gesellschaft zu überzeugen. Auch Günther Beckstein, der Schäubles Antrag im Bundesrat scheitern ließ, nahm mein Angebot nicht an, seine Dissertation auf meiner Internetseite zu veröffentlichen. Erhellend für die Beurteilung seiner eigenen Dissertation ist seine Begründung. Sein Büro teilte mir mit, „für eine Veröffentlichung der Dissertation von Herrn Staatsminister auf meiner Internetseite konnte er mir keine Zustimmung erteilen.“ Er meinte, in einer derartigen Veröffentlichung von Dissertationen keinen Mehrwert erkennen zu können. In aller Regel behandele sie ein sehr spezielles, heute oft wissenschaftlich überholtes Thema, das mit der aktuellen beruflichen Tätigkeit des Promovierten in keiner Verbindung mehr stehe.Wäre es dann nicht ange-messen, den Doktorgrad mangels Aktualität nicht mehr zu führen?
Vor kurzem wurde im Zusammenhang mit einer Plagiatsaffäre in Serbien angeregt, die Geheimnistuerei um die titelbegründenden Dokumente zu beenden. Florian Hassel schrieb in „Turbo-Doktor“ (SZ vom 16.6.2014) am Ende des Artikels:
„Eine andere geforderte Neuerung würde wohl etliche Bomben im Wissenschaftsgebiet hochgehen lassen: sämtliche Diplom- und Doktorarbeiten aller Hochschulen online für jedermann verfügbar zu machen.“ Da würde vermutlich so mancher Herr Doktor in langen Unterhosen dastehen.
Schon 2008 hatte ich angeboten (vorletzter Absatz), auf meiner Webseite Dissertation, die ersten zehn Seiten, eventuell eine Zusammenfassung, zu veröffentlich oder wenigstens anzugeben, wo sie ohne besondere Umstände einsehbar oder als Kopie zu erwerben ist. Auch Diplomierte und, Master können belegen, dass die Herabsetzung ihrer Abschussarbeiten für das Studium unbegründet und diese mit dem Inhalt von Dissertationen vergleichbar sind.
Es wird wohl etwas dauern, bis ein zweiter Kurt Bock, promovierter BASF-Chef auftaucht, der die Anrede mit Titel in seiner Firma abschafft. Landesweit sehe ich im deutschen Titelwesen keine Aussichten auf Einsicht.
U.W. am 39.6.2014
Macht und Schein der Titel
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