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Gehirn - Geist / Artikel Kittel / Erfahrungs-Seelenkunde
 

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Erfahrungs-Seelenkunde
 

VERHALTENSTHERAPIE & VERHALTENSMEDIZIN
Heft 2/2005 
 
  

„Wir sollten aufhören, von Freiheit zu sprechen.“ Wir haben keine Wahl, auch nicht bei Wahlen, schon gar keine Schuld, sondern „sind geprägt wie die Lorenz'schen Graugänse.“ Derartiges versichert in der Nachfolge Skinner's heute der Neurophysiologe Wolf Singer. Er ist sich sicher:

„Verschaltungen legen uns fest.“ Ihn selbst etwa darauf, seit Anfang 2004 erst in der F.A.Z. und seitdem wiederholt auch anderenorts zur „Erkenntnis“der Hirnforschung zu erklären: „Keiner kann anders als er [verschaltet...] ist.“

Mutig hatten sich Neurowissenschaftler allerdings schon vorher weit aus dem Fenster gelehnt, visionär den Blick ins Land gerichtet – und in ein grandioses Jahrtausend. Es hatte soeben begonnen, als ein Neurophilosoph schaltete und dazu ansetzte, in einem neu gegründeten „Magazin für Psychologie und Hirnforschung“ zur Großprophylaxe der Öffentlichkeit zu schreiten und sie rechtzeitig „auf die brisanten Erkenntnisse der modernen Hirnforschung“ vorzubereiten, in der Überzeugung: „Die Hirnforschung verändert in dramatischer Weise unser Menschenbild und damit die Grundlage unserer Kultur, der Basis unserer ethischen wie politischen Entscheidungen.“

Wer es zu lesen bekam, der fragte sich vielleicht, ob nach Marx, Haeckel und anderen wieder einmal die Verkündigung einer „wissenschaftlichen Weltanschauung“ drohe. Der Fachmann überschlug es schnell: Neurophysiologie als Ersatz für persönliche Selbstbilder und individuelles Selbstverständnis, für Ich- und Selbstbewusstsein, Selbstmodelle in Psychologie und Psychotherapie und sonstigen „Menschenbildern“ aller Art?

Da flog vor Verblüffung nicht nur wie weiland dem Bürger eines Jakob van Hoddis bei seiner Vision eines Weltende's ...

... vom spitzen Kopf der Hut.
In allen Lüften hallt es (vielmehr) wie Geschrei.
Dachdecker stürzen ab und gehn entzwei.
Und an den Küsten liest man steigt die Flut.
Der Sturm ist da...

...als moderner Bildersturm, ja Bilderstreit, der bislang als Spezialität von Theologen galt (trotz Bilderverbot im Alten Testament vor dreitausend Jahr oder weit mehr). Wenn da die „Neuroplastizität“ nicht wär': wegen der Verschaltungen, die „uns“ festlegen, sich selbst aber jederzeit und überall „umlegen“ oder besser gesagt sich unablässig verändern!

So hat sich jüngst auf dem DGVM - Psychotherapeutenkongress „Freier Wille und Biologische Regulation“, der vom 2.-5. März in München stattfand, Singer's bis dahin gleich gesinnter, pardon: „gleich verschalteter“ Mitstreiter Gerhard Roth, der mit ihm im Herbst zuvor noch DAS MANIFEST elf „bedeutender Neurobiologen“ mitgetragen hatte, von jedem Reduktionismus psychischer Leistungen auf cerebrale Neuronenaktivitäten und dabei feststellbare „physikochemische Vorgänge“ überrascher Weise ausdrücklich distanziert. Noch dazu gestand er dabei sogar ein, dass der unter naturwissenschaftlich orientierten Forschern oft vorausgesetzte prinzipielle oder weltanschauliche Determinismus auch bloß „Glaube“ sei.

Sachlich wäre Roth damit auf den Boden der Tatsachen zurückgekehrt. Denn auch in der Neurophysiologie lassen sich mit „Korrelationsanalysen“ keine kausalen Relationen feststellen. Methodologisch werden so gewonnene Daten„überinterpretiert“, wenn irgendwelchen Reaktionen zeitlich vorlaufende Neuronenaktivitäten oder Bereitschaftspotentiale als „ursächlich“ für erstere gedeutet werden – beispielsweise bei Untersuchungen nach Art und Konstruktion von Benjamin Libet, aufgrund derer Singer, Roth und andere unsere „Willensfreiheit“ meinen in Abrede stellen zu können. Andere glauben dasselbe aus „prinzipiellen Gründen“ sogar tun zu „müssen“...

Im Schrifttum wurde von Roth und Singer gelegentlich sogar darauf hingewiesen, dass Neuronenaktivitäten an und für sich überhaupt„bedeutungslos“ sind. Interpretierbar werden sie in der Tat erst und nur in Bezug auf oder „relativ“ zu anderen Kenntnissen. Roth beendete denn auch in seinem Vortrag auf dem Kongress recht besehen den von ihm mit angezettelten Streit, indem er die Eigenständigkeit und Bedeutung von Psychologie und Psychiatrie gegenüber neurophysiologischer Forschung betonte. Allerdings ist zu fragen, warum methodologisch Selbstverständliches heute eigens angesprochen und herausgehoben werden muss: Wissenschaft ist seit jeher auf „Zusammenhangswissen“ aus. Schon einfachste Daten sind für uns nur in ihrer Beziehung zu anderen interessant. Es sind diese Bezüge oder eben „Zusammenhänge“, die als „geistiges Band“ sachlich allerdings von besonderer Art sind – weil alle Zusammenhänge, die nicht zeitlicher Art sind, nicht einfach „beobachtet“ werden können, sondern erst„herausgefunden“ und „festgestellt“ werden müssen, wenn sie nicht überhaupt erst von uns selbst hergestellt werden: in Entscheidungen und Festlegungen durch persönliche Entschlüsse oder gemeinsame Beschlüsse bis hin zu frei vereinbarten Regeln und Gesetzen, an die wir uns „halten“, wenn wir uns in unserem bewussten Denken, Planen und Handeln freiwillig an ihnen orientieren...

Apropos

Bisher verschleiert in den Neurowissenschaften eine Art „cerebraler Pseudopsychologie“, dass Hirnforscher bei der Analyse der vielfältigen cerebralen Vorgänge auf valide psychologische Einzelkenntnisse und genaues Wissen um psychologische Zusammenhänge angewiesen sind: angefangen bei Wahrnehmungsprozessen aller Art, einschließlich derjenigen, durch die wir uns eher dumpf „gefühlsmäßig“ zentraler motorischer und vegetativer Koordinations- und Regulationsprozesse „bewusst“ werden, bis hin zu all den „kognitiven“ Leistungen, in denen wir aktuelle oder erinnerte Wahrnehmungen oder „Erfahrungen“ unter mehr oder weniger umsichtiger Berücksichtigung des „Wissens“ verarbeiten, das einem aufgrund eigener
Erinnerungsfähigkeit dabei jeweils zur Verfügung steht.

In der Hirnforschung stützt man sich stattdessen auf Rhetorik! Noch dazu besonders fragwürdige, mit der psychologisch schon lange überwundene Primitivvorstellungen aus der Anfangszeit menschlichen Sinnierens und Phantasierens über sich selbst fröhliche Urständ feiern.

Hirnforscher tun und reden nämlich so, als ob das Gehirn denkt, fühlt, entscheidet usw. Durch diese sprachliche „Verschiebung“ werden für uns höchst spezifische eigene Leistungen isoliert einem Organ, also einem Teil von uns zugeschrieben, und zwar ohne Rücksicht darauf, dass wir diese„Eigenleistungen“ nach unendlich langen Zeiten völlig anderer Denkweise mittlerweile sogar bis in die „gewöhnliche“ Alltagssprache hinein uns„selbst“ (als „Personen“ oder noch bezeichnender als „Individuen“) zurechnen. Die Folgen sind gravierend, wie Max R. Bennett und Peter M. S. Hacker in ihrem Lehrbuch Philosophical Foundations of Neuroscience detailliert zeigen. Eine davon ist die Reaktivierung einer Denkfigur, die aus vorwissenschaftlichen Zeiten bekannt ist: In neurophysiologisch„veränderter“ Perspektive übt jetzt nämlich „das Gehirn“ die Funktionen aus, die in der Vorstellungswelt eines René Descartes ein ominöser „Geist“
bewerkstelligte – Erbe jener Geister, Dämonen oder Götter, denen sich Menschen vorzeiten ausgesetzt wähnten.

Eine Verpsychologisierung des Gehirns wäre tatsächlich eine „dramatische“ Veränderung unseres Denkens: ein „geistiger“ Rückfall hinter das von der modernen Psychologie Erreichte.

Anonymus

Siehe auch "Hirnforschung und Willensfreiheit"

oder die Webseite

In der Frankfurter Rundschau erschien am 23. November 2004 auf S. 16 unter dem Titel "Pseudoneuro" eine Rezension dieses Buches; online ist der Text  h i e r zu erreichen.

oder hier 

 



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