Die Marineschule in Flensburg-Mürwik war meine letzte Station als deutscher Soldat. Leider veräumte ich den Termin bei einem Fotographen in der Stadt, der unsere Gruppe einzeln in Marineuniform aufnehmen wollte. So fehlt mir ein Foto in der Kleidung eines Matrosen.
Nach ein paar Tagen wurden wir in Marsch gesetzt in Richtung Westküste. Das genaue Ziel war vorerst unbekannt. Es interessierte auch niemanden, denn die Kolonne verwandelte sich bald in einen Trauermarsch. nach den ersten von 50 Km mußte schon der Erste der völlig laufungeübten Truppe seine blasenübersäten Füße behandeln lassen. Abwechelung für den Trauermarsch brachte ein am späten Nachmittag einbrechendes Unwetter mit Sturm und Regen. Wir flüchteten in alle Richtungen und suchten ein Dach zum Unterstellen. Erst am folgenden Tag waren alle eingesammelt. Im Ziel, dem Ort Dagebüll, humpelten fast alle, und sie freuten sich auf ein Bett. Jetzt war auch unser Ziel bekannt: Wyk auf der Insel Föhr, wohin uns die Fähre brachte. Dort warteten einige leere Pensionen auf die fußlahmen Gefangenen. Wir wohnten zwar ziemlich komfortabel, "schoben aber ständig kohldampf", wie es heißt, wenn Soldaten Hunger haben. Im Keller stand bald eine Reihe von Kanonenöfen, an denen ständig gekocht wurde, meistens Kartoffeln, die wir nachts in den Feldern ausgruben.
Wenige Wochen später übersiedelten wir nach Westerland auf Sylt und erlebten Sonne, Wärme, ohne baden gehen zu können, waren bedrückt durch Ungewißheit über das ungewisse Schicksal der Angehörigen und kämpften gegen Hunger und Langeweile. Auch auf Sylt dachten wir ständig nur daran, etwas zum Essen zu organisieren. Wir waren ja schon mit Kartoffeln und Mehl zufrieden. Mit Wasser und Salz bruzelten wir uns leckere Köstlichkeiten. Die in Dünen verstreut gelagerten Mehlbunker wurden wegen der vielen Diebstähle sogar mit Waffen bewacht. Eine Kontrolle erwischte mich in der Mittagshitze beim Schlafen vor einem Mehlbunker und wollte mich melden. Für Schlafen während der Wache gab es drei Tage Bau. Doch der UvD (Unteroffizier von Dienst) fand das Wachlokal nicht. Hier herrschte noch deutsche Soldatendisziplin.
Die nächste Verlegung führte wieder südwärts. Wir marschierten frohen Mutes in Richtung Heimat, schließlich wohnten wir alle in südlicheren Gebieten. Doch ein Unwetter verhinderte die geordnete Ankunft in Brunsbüttelkoog. Hier endet der Nord-Ostsee-Kanal in der Elbe, nordwestlich von Hamburg. Jeder flüchtete so schnell er konnte unter das nächste Dach, das er erreichen konnte. Nach zwei Tagen waren wieder alle eingesammelt
Das Quartier in der Nähe der Elbe war eine Scheune. Tagsüber verluden wir Munition zum Versenken in der Nordsee, nachts schliefen wir wie die Toten und merkten erst morgens die Besuche der Ratten an den zerkratzten Gesichern. Die suchten was zum Fressen, vor allem Brot. Doch war hatten alles Eßbare hoch an den Balken der Scheune aufgehangen.
Auch hier im Gefangenenlager herrschten noch gewisse Hierarchien der nicht mehr existierenden Wehrmacht. Wir mußten zwar schwer arbeiten, hatten aber viel Freiheit. Ich wurde einem "Leutnant" als Bursche zugeteilt und fand durch ihn die Weichenstellung für ein neues Leben. Obwohl er selbst nichts über das Schicksal seiner Familie in Mülheim/Ruhr wußte, nahm er mich spontan in seiner Familie auf, als er hörte, daß ich keine Chance hatte, in die "Heimat" entlassen zu werden. Mein Herkunftsland Niederschlesien war von den Polen besetzt. Ich hätte mich allenfalls als Minenarbeiter nach Frankreich melden können. Der spätere "Onkel Karl" wohnte in Mülheim, einer Stadt, die von Luftangriffen nicht verschont geblieben war. Doch er war zuversichtlich, eine Möglichkeit für einen gemeinsamen Neuanfang zu finden. Ich durfte also seine Adresse als meine Entlassungsadresse angeben.
Der Leutnant wurde vor mir entlassen. Mit Bangen wartete ich auf eine Nachricht von ihm. Wie glücklich war ich nach 10 Tagen. Da teilte mir "Onkel Karl" mit, die Familie mit Frau und den zwei gleichaltrigen Söhnen sei wohlauf. Welche Erleichterung für mich. Meine Entlassung erfolgte am 8. Aug. 1945. Nach zweitägiger Fahrt und Übernachtung bei Frost auf dem Boden begann ein neues Leben in einer unbekannten Familie.
Ich wurde wie ein dritter Sohn behandelt. Der Winter 45/46 war ein steter Kampf um Nahrung und Wärme. Es wurde alles mit mir geteilt. Ich ging wieder zur Schule, um das Abitur nachzuholen. Zum Weihnachtsfest wünschten wir Burschen uns ein Laib Brot. Es lag dann mit Schleife versehen unter dem Weihnachtsbaum. Und jeder von uns schnitt sich bedarfsweise nach der normalen meist knappen Mahlzeit ein Stück von seinem Brot ab, so als Zusatzschmankerl. Wenn die Mutter mal nicht da war, kochte Karlheinz, der älteste Sohn, uns eine Suppe aus Gries und Wasser. Glücklich über organisierte Zuckerrüben schlichen wir uns eines Tages in den Keller und aßen eine Rübe roh. Doch nur einmal. Wir glaubten zu ersticken, so schnürten uns die Rübe den Hals zu.
Es sprach sich schnell heraum, auf dem Flugplatz läge Kohlenstaub. Sofort brachen wir mit einer großen Schubkarre auf und holten eine Ladung. Das Verfeuern brachte vor der Wärme Probleme. Der Staub mußte im Ofen befeuchtet werden. Bald hatten wir den Bogen raus.
Der sehr religiöse Onkel Karl strahlte soviel herzenswärme und Fröhlichkeit aus, daß mir diese Zeit als eine wertvolle und unvergeßliche seelische Stärkung in Erinnerung geblieben ist. Meine religiöse Orientierung kam wenigstens für einige Jahre in eine neue Richtung. Sie half mir später beim Heiraten einer protestantischen, also andersgläubigen Frau. Mit dem leider schwerkranken älteren Sohn Karlheinz und seiner Frau bin ich heute noch in Verbindung. Die Folgen der Kriegsverletzung und der Gefangenschaft haben ihm in den vergangenen Jahren viel Leid gebracht.
Im Frühjahr 1946 verließ ich diese gastfreundliche Familie in Mülheim mit zwiespältigen Gefühlen. Ich hatte meinen Bruder in Garmisch-Partenkirchen gefunden. Dort konnte ich erneut versuchen, das Abitur nachzuholen, um in München zu studieren.
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