Im Frühjahr 1946 meldete sich mein Bruder Ekkehard aus Garmisch-Partenkirschen und forderte mich auf, nach Garmisch zu übersiedeln. Eine Tante hatte unsere Adressen getauscht. Über die Vermittlung eines Freundes aus Hirschberg war er nach dem Krieg in der Familie einer Dame des Österreichischen Adels gelandet. Aus einem Flirt wurde eine enge Beziehung. Außer dem Freund, zwei Töchtern und einer zur Familie gehörenen Hauhälterin wuchs die Famlie mit mir als neuem "Sohn" auf sieben Personen. Eigentlich wäre es ein Problem gewesen, alle satt zu bekommen. Doch mit dem vielen Schmuck der "Mam" konnte alles Schöne der Welt finanziert werden. Auf dem schwarzen Markt gab es Zigaretten, Kaffee, Milchpulver und andere Raritäten aus den Beständen der US-amerikanischen Armee.
Um mir den Eintritt in die Zivilisation zu erleichtern spendierte mir Mam die Teilnahme an einem Tanzkurs. In einem ehemaligen Pensionat für "Höhere Töchter" hatten die Betreiber dieses im Krieg geschlossenen Töchterheims eine Tanzschule eröffnet. Sie entdeckten bald meine Begabung für den Gesellschaftstanz und luden mich daher ein, jeden Samstag etwas ältere Jüngere Damen zum Tanz zu führen. Einmal nahm ich sogar an einem öffentlichen Tanzturnier im Golfhotel Sonnenbichl teil.
Als das Töchterheim neu eröffnet wurde, gehörte ich neben anderen Studenten aus Garmisch zu den regelmäßig eingeladenen Herren bei den Hauspartys. Beinahe hätte ich mein Herz verloren. Vielleicht wäre der Star der Mädchen eine Partie gewesen. Ich hatte sie, um eine Flasche Eierkognak spielend, im Tennis geschlagen. Hinter einem Heustadel tranken wir die ganze Flasche aus. Mein Gott, wie unerfahren war ich damals noch!
Gleich nachdem Abitur wollte ich die Bedingungen für die Zulassung zum Studium in München erfüllen. Wer nicht am Wiederaufbau der Gebäude mitgearbeitet hatte, mußte 9 Monate Praxis nachweisen. 6 Monate arbeitete ich im Werkzeugbau von Radio-Seibt in München. Dort lernte ich Feilen, Fräsen, Sägen und Bohren. Sichtbares Zeugnis des Gelernten waren eine kleine Bügelsäge und eine Spulenwickelmaschine, jedes Teil handgemacht. Nach 3 Monaten Arbeiten in einer Elektrowerkstatt suchte ich eine Beschäftigung in Garmisch.
Naheliegend als Arbeitgeber waren die US-Amerikaner, die sich diese schöne Gegend als Erholungsgebiet (Recreation Center) für die Besatzungssoldaten ausgesucht hatten.
Zur Finanzierung von Lebensunterhalt und Studium arbeitete ich nicht nur während der Semesterferien, sondern auch während des Studiums, meistens in Einrichtungen der US-amerikanischen Streitkräfte: als Verkäufer in der Commissary und im Clothingstore, im Eibseehotel (zuerst als Page, dann Portier), als Fahrer eines Colonals und Gärtner, Prüfer im Construction-Office, Barmixer, Bauarbeiter und Büroangestellter. Die jahrelange Anstellung im Eibseehotel konnte ich nur dadurch halten, daß ich mit einem Kollegen die Dienstzeiten tauschte. So war ich dann jeweils von Freitag bis Sonntag 24 Stunden + 16 Stunden + 8 Stunden (ges. 48 Std.), jeweils mit 8 Stunden Pause, im Dienst. Fahrzeit von der Wohnung zum Eibseehotel: 1 Stunde. Die Vorlesungen am Montag verschlief ich meistens, die am Freitag verpaßte ich auf dem Weg ins Eibseehotel, den Professor habe ich nie gesehen.(16 Stunden täglich)
Die ersten Trinkgelder nach dem Abitur erhielt ich in einem Lebensmittelladen, der Commissary, am Fruchtstand, fürs Aufheben und Beiseitelegen von Obst und Gemüse. Aber welche Ängste stand ich aus, wenn ich in der Mittagspause 100 gr. Kaffee für meine Mutter herausschmuggelte. Diebstahl wurde mit sofortiger Entlassung und Einstellungssperre geahndet.
Die nächste Station war der Kleiderladen (clothing store) und danach das construction office in der Mac Graw Kaserne, dem Hauptquartier der Amis. Dort prüfte ich alle Baumaßnahmen im Raum Garmisch auf Übereinstimmung mit den Bauzeichnungen. Die Anstellung bei einem Colonel als Fahrer, Heizer und Gärtner beendete ich abrupt, nachdem er mich des Diebstahl verdächtigt hatte. Sein Sohn brauchte immer Geld für Süßigkeiten und tauschte Zigaretten der Eltern dafür ein.
Meine Englischkenntnisse waren durch den Kontakt mit Amerikanern schnell besser geworden. Wir Luftwaffenhelfer hatten noch während des Krieges als Hoffnung auf eine problemlose Zulassung zum Studium ein "Vorsemestermerk" erhalten. Doch dann hieß es "April April". Wir mußten das Abitur in einer Kriegsteilnehmer-Klasse doch noch machen. Ein Gymnasium gab es in Garmisch nicht, nur eine Oberrealschule. Im Abiturzeugnis stand daher bei mir für Englisch eine 6. Als ehemaliger Gymnasiast glänzte ich zwar in Latein, lag aber in Englisch hoffnungslos zurück. Weiterer Ausgleiche brachten die Noten in Physik und Mathematik, jeweils 1. Die grammatischen Lücken in Englisch blieben zwar bestehen, aber besonders im Eibseehotel lernte ich beim täglichen Sprechen mit den Gästen schnell ein fast akzentfreies amerikanisches Englisch, was ich bis heute nicht verlernt habe. Um es immer wieder zu üben, spreche ich Fremde mit Stadtplan in München an, ob ich helfen könne. Nicht nur Deutsche, sondern auch Englischsprechende sind immer froh, den Weg zum Ziel erklärt zubekommen, und ich kann wieder mal englisch reden.
Es war für die deutschen Angestellten nicht so einfach, das unterhalb der Zugspitze liegende Hotel zu erreichen. Der Personalbus fuhr nur viermal am Tag. Den stündlich verkehrenden Bus für die Gäste des Hotels durften die Deutschen nicht benutzen. Als bellboy (Page) kannte ich natürlich alle Gäste. Ich bat sie daher einfach, mich als Gast im Bus mitzunehmen, und hatte somit die stündliche Beförderung.
Unsere amerikanischen Manager verbrachten oft die Abende im Rießerseehotel nahe Garmisch und kamen dann mit dem Wagen vom Manager des Rießerseehotels heim. Sonntag morgen mußte ich dann den Wagen, einen Dodge, wieder ins Rießerseehotel bringen. Natürlich fuhr ich eine Angeberschleife, hielt mit lauter Musik vor den Zimmern der Mädels im Töchterheim und grinste lässig-frech aus dem Seitenfenster.
Nach einem Jahr wurde ich im Eibseehotel zum Deskclerk (Portier) ernannt. Die größte Schwierigkeit beim Empfang der Gäste entstand immer dann, wenn sie nicht einzeln, also mit eigenem Auto, sondern mit dem Bus ankamen. Das Eibseehotel war ausschließlich für GI's reserviert. Offiziere stiegen im Rießerseehotel unterhalb der Bobbahn ab. Es galt dann, die Menschentraube vor dem Empfang (Desk) möglichst schnell abzufertigen und ihnen ein Zimmer zuzuweisen.
Das netteste Erlebnis hatte ich noch als Page mit einer Amerikanerin. Ich brachte sie aufs Zimmer, gab Wissenswertes über das Hotel bekannt und nannte die nächste Zeit zum Essen. Sie gab mir einen Geldschein als Trinkgeld, was nicht ungewöhnlich war. Doch als ich auf dem Flur die Hand öffnete, war es ein 20 Dollarschein. Der Portier, dem ich das berichtete, ein Ungar mit viel Erfahrung in europäischen Hotels, konnte es auch nicht glauben. Diese 20 Dollar entsprachen einer Kaufkraft von ca. 200 EUR. Ich lud "Hannah" für den nächsten Tag ein zu einer Rundfahrt. Dafür lieh ich mir ein Auto, einen Opel P4 und kurvte mit ihr im Raum Mittenwald und Kochelsee herum. Am nächsten Abend, zu Sylvester, ich hatte mir von einem Kellner einen Smoking geliehen, besuchten wir den damals sehr berühmten Nachtclub, das Casa Carioca, gleich neben dem Eisstadium in Garmisch, von den Amerikanern gebaut. Deutsche konnten es nur in amerikanischer Begleitung besuchen. Dieser Nachtklub bietet nicht nur Eisshows, sondern sein Dach kann zur Seite gefahren werden, zum Tanzen unter freien Himmel. Die Tanzfläche wurde über die Eisfläche geschoben und federte beim Tanzen. Zur Erinnerung: das war vor 50 Jahren!
Am nächsten Tag rief mich einer der Manager des Hotels zu sich und erklärte: "Uli (wir wurden alle beim Vornamen gerufen), ich habe nichts dagegen, daß du mit einem Gast ausgehst, aber benutze dann bitte nicht den Haupteingang."
Der Führerschein konnte im Jahre 1947 nur mit Genehmigung des Landratsamtes erworben werden. Dank der Dringlichkeitsbescheinigung vom Eibseehotel gab es für mich keine Probleme. Ich mußte schließlich die Wagen der Gäste des Hotels vom Eingang zum Parkplatz fahren. So manche Nacht fuhr ich da mit den Autos von Stammgästen mit deren Genehmigung herum. Erlebt habe ich in diesem 140-Zimmer-Hotel eine Menge. Im Ernstfall brauchte die Militärpolizei (MP) etwa 30 Minuten, bis sie für Ruhe und Ordnung sorgen konnte. Da hat die frisch angetraute Ehefrau ihren Mann ausgesperrt, weil er mit einem Zimmermädchen geflirtet hat. Oder ER fuhr nach Hause, weil SIE mit einem Kellner angebandelt hatte. Ich war während meiner Nachtdienste am Wochenende und vollem Haus meistens gut beschäftigt.
Eines Nachts hörte ich auf dem See die Geräusche eines Paddlers. Es war einer der guten Stammgäste vom Flugplatz Erding, die das Hotel für freie Unterkunft regelmäßig mit Werkzeugen und Material versorgten. Natürlich bekamen die immer ihr "Stammzimmer". Dieser Mr. Matera, der mir eine 110 V Bohrmaschine geschenkt hatte, damals ein Schatz, nahm einfach den defekten Außenbordmotor mit aufs Zimmer, befestigte ihn am Bett und versuchte ihn zu starten. Und tatsächlich, er sprang an. Aber was für ein Lärm um 3 Uhr morgens in einem zu dieser Zeit im stillen Hotel. Ich flüchte sofort, denn nebenan wohnte der Manager.
Übrigens, mein Gehalt als Page betrug 158 RM, mit Trinkgeldern und Handel mit Dollars und Zigaretten erwirtschafte ich ca. 2000 RM pro Monat. eine gute Grundlage für das Studium. Der Geldumtausch gehörte zum Kundendienst im Hotel. Die Gäste fragten immer schon sofort nach der Ankunft, ob ich "deutschmarks" besorgen könne. Ich rief dann in Garmisch meinen Spezi an und fragte, wann die Tante ankomme. Wenn er sagte "4 Uhr 20" wusste ich, dass er mir für einen Sriptdollar (die Währung der Besatzungs statt dem Greenback) zahlen würde. Vom Chefportier lernten wir, lose Zigaretten, die wir häufig als Trinkgeld erhielten, in die entsprechenden Originalschachtel zu stecken und die Schachteln kaum merkbar als neue herzurichten. Das Einsammeln der Kippen überließen wir dem Chefclerk, der den daraus gewonnenen Tabak lose an die deutschen und ausländischen Angestellten verkaufte. Eine weitere kleine Verdienstquelle waren Druckerzeugnisse, "stars and stripes" und comics, die am Empfang verkauft wurden. Sobald sie in der Hotelhalle liegen blieben, sammelten wir sie ein, glätteten sie und schon steckten sie wirder im Regal. Dieses Nebeneinkommen war wichtig. Denn nur eimal, im 1. Semester, konnte ich einen Erlaß der Studiengebühren erhalten. Später hatte ich keine Chance, die erforderlichen Prüfungen zu bestehen.
Die Abhängigkeit von der Erfordernissen des Studiums, z.B. während der Prüfungen zum Vordiplom, zwangen mich einige Male, die Anstellung zu kündigen und später zu erneuern. Zwischenzeitlich nutzte ich auch kurzzeitige Angebote, wie zum Beispiel Schneeschaufeln vor dem Kreuzeckhotel nach einem starken Schneefall und als Hilfsarbeiter am Bau.
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