Brockhaus' Konversations-Lexikon 1908
Doktor (lat., „Lehrer“) im Mittelalter abwechselnd mit Scholastikus u. a. namentlich aber mit Magister gebrauchte Bezeichnung für Lehrer überhaupt. Den Übergang zum Gebrauch des Wortes als Titel (wie das gleichbedeutende jüd. Wort Rabbi) bildet die Bezeichnung der Kirchenväter als Doctores ecclesiae. Seit dem 12. Jahrhundert erhalten namhafte Juristen (z. B. Irnerius) und ebenso die hervorragensten theol. Scholastiker mit auszeichnenden Beiwörtern diese Benennung. So wurde Thomas von Aquino Doctor angelicus (universalis), Bonaventura Doctor seraphicus, Alexander von Hales Doctor irrefragabilis, Duns Scotus Doctor subtilis, Roger Baco Doctor mirabilis, Wilhelm von Occam Doctor singularis, Gregorius von Rimini Doctor authenticus, Johann Gerson Doctor christianissimus, Anton Andreä Doctor dulcifluus, Thom. Bradwardin Doctor profundus genannt. Mit dem Aufkommen der Universi-täten zu Anfang des 13. Jahrhunderts wurde D. zugleich mit Magister Bezeichnung des an der Universität zum Lehren berechtigten durch das Doktorkollegium der Fakultät. Eventuell unter Mitwirkung des Kanzlers der Universität und unter Feierlichkeiten, die dem neuen D. meist sehr große Kosten verursachten. Der Titel D. überwog in den Fakultäten der Juristen, Mediziner und Theologen, bei den Philosophen (Artisten) der Titel Magister, doch wurde dieser auch in den andern Fakultäten statt D. gebraucht, und so bezeichnen beide dasselbe.
Als im 14. Jahrh. Universitäten durch kaiserl. Oder päpstl. Stiftungsbriefe (privilegia) gegründet wurden, wurde das Recht, D. zu ernennen, vielfachj als besonderes Recht verliehen, einigemal auch versagt. Doch blieb dieser zu fiskalische Zwecken eingeführte Mißbrauch nur Ausnahme.; es erhielt sich die Regel, daß mit der Gründung der Universität als eines studium generale auch das Promotionsrecht verbunden wurde. Dieses galt als jus ubique docendi; doch erkannten die bedeutenden Universitäten nur diejenigen D. an, denen sie selbst diese venia erteilt hatten. Doch ebenso wurde diese venia allmählich abgestuft: die niederste Stufe war das Baccalariat, die oberste das Doktorat; dazwischen standen die Licentiaten. Kaiser und Papst verliehen auch selbst den Titel D. und weiter das sog. Hofpfalzgrafenrecht, den Doktortitel zu vergeben. Die so Promovierten nannte man Doktores bullati (von bulla, Urkunde) im Gegensatz zu den auf Grund der vorgeschriebenen Studien und Prüfungen rite promoti. Diese Unsitte riß ein, weil die den D. verlie-henen, den Adelsrechten sich nähernden Privilegien (gesellschaftliche Ehrenrechte, bevor-zugter Gerichtsstand usw.) den ursprünglich nur zum Zweck des Lehramts geschaffenen Titel in eine Art Standesbezeichnung verwandelt hatten.
In neuerer Zeit ist der D. in Deutschland als akademischer Grad für alle Fakultäten gebräuchlich geworden und somit der einzige akademische Grad; nur in der Theologie gibt es noch den Grad des Licentiaten, den man rite erwerben kann, während in dieser Fakultät der Doktortitel nur honoris causa erteilt wird. Für die Habilitation als Docent an einer Universität ist der Doktortitel Vorbedingung, aber nicht mehr ausreichend; für einige andere gelehrte Berufsarten (Bibliothekare, Archivare u. s. w.), wenigstens erwünscht, aber nicht unerläßlich.
Die Ärzte werden im gewöhnlichen Leben auch dann D. genannt, wenn sie den Titel nicht erworben haben. Die Promotion in absentia ist jetzt in Deutschland fast durchweg beseitigt. Die Doktorpromotion erfolgt durch den Dekan der betreffenden Fakultät in der Regel nach Einreichung einer über einen gelehrten Gegenstand geschriebenen Dissertation, welche auf einigen Universitäten noch öffentlich verteidigt und zur Kontrolle durch die Öffentlichkeit fast überall gedruckt werden muß, und nach voriger bestandenen Prüfung (examen rigorosum). Sie kann aber auch ehrenhalber (honoris causa) bloß per diploma (durch Diplom verliehen werden. Die früher üblichen feierlichen Ceremonien sind jetzt fast überall verschwunden; doch besteht vielfach noch die Sitte des Doktoreides. Nach Verlauf von 50 Jahren pflegen die Universitäten den noch lebenden Trägern des Titels das Diplom in ehrenvoller Weise zu erneuern. Als Abkürzung des Titels ist bei den Theologen D., sonst Dr. gebräuchlich; Juristen fügen meist jur. (juris), Mediziner med. (medicinae) hinzu. Dr. allein bedeutet in der Regel Dr. phil. (Doctor philosophiae), D. der Philosophie. Der medizinische D. wird neuerdings in Deutschland erst nach dem absolvierten Staatsexamen verliehen. Er ist für die Zulassung zum Examen eines beamteten Arztes (Amtsphysikus, Kreisphysikus) notwendig.
Manche Universitäten haben, entsprechend der vermehrten Zahl der Fakultäten, in neuerer Zeit auch besondere D. der Naturwissenschaften, Dr. rer. nat. (Doctor rerum naturalium). Durch Erlaß vom 11.Okt.1899 wurde den preuß. Techischen Hochschulen das Recht beigelegt, die Würde eines Doktoringenieurs (abgekürzt, und zwar in deutscher Schrift, Dr. Ing.) zu verleihen. Die Bewerber müssen das Reifezeugnis eines deutschen Gymnasium, eines Realgymnasiums oder einer Oberrealschule, sowie den Ausweis über Erlangung des Grades eines Diplom-Ingenieurs (s. Diplomprüfungen) beibringen. Dem Vorgang Preußens schlossen sich Sachsen, Baden und Hessen an. In England sind für die verschiedenen Fakultäten verschiedene Abkürzungen üblich, die im Gegensatz zur deutschen Sitte den Namen nachgestellt werden: D. D. (Doktor of Divinity, Doctor Divinitatis), D. der Theologie; D. (C.) L. (Doctor of (civil or canon) Law) und L. L. D. (Doctor Legum oder Legum Doctor), D. der Rechte; M. D. (Medicinae Doctor), D. der Medizin; D. M. (Doctor of Music, Doctor Musicäe), D. der Musik. Neuerdings promovieren nicht nur im Ausland, sondern auch in Deutschland Frauen, namentlich in der mediz. Fakultät; prinzipiell ist damit die Zulässigkeit des Frauenstudiums auch für die deutschen Universitäten entschieden; wenngleich inkonsequenterweise noch nicht überall anerkannt. – Vgl. M. Baumgart, Grundsätze und Bedingungen der Erteilung der Doktorwürde in allen Fakultäten der Universitäten des deutschen Reiches, nebst einem Anhang, enthaltend die Promotionsordnungen der übrigen Universitäten mit deutschen Unterrichtssprache (5. Aufl., Berlin 1898); G. Kaufmann, Geschichte der deutschen Universitäten (Bd. 1, Stuttgart 1888; Bd. 2 ebd. 1896(; Wallé, Materialien zur Kritik des Doktor-Ingenieurs (ebd. 1902).
Eine etwas andere Sicht gibt die Brockhaus Enzyklopädie aus dem Jahre 1968
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