Die Denk-Welle
Eine neue Welle breitet sich in Deutschland aus. Die Würde-ritis (ich würde sagen, glauben, meinen, hoffen) hat Konkurrenz bekommen. Schneller als jede Seuche überschwemmt die Denkwelle mit der Verbreitungsmacht der Medien Land und Leute. Wer etwas zu sagen hat, vom Bundeskanzler bis zum einfachen Bürger, versäumt es nicht, beinahe jedem zweiten Satz in einem Gespräch und fast jeder Antwort in einem Interview das Bekenntnis "ich denke" voranzustellen. Werden sich die Deutschen wieder bewußt, daß sie einst als das Volk der "Dichter und Denker" bezeichnet wurden? Der französische Philosoph und Mathematiker René Descartes (1596-1650) beginnt seinen berühmt gewordenen Ausspruch zwar auch mit der Feststellung "Ich denke", doch er sagt dies nicht um weiterzusprechen, sondern um seine Existenz zu begründen ("also bin ich"). Nun scheint zu gelten: "Ich spreche, also denke ich", ohne zu wissen, wie Denken im Kopf abläuf.
Bastian Sick, seit 1999 Mitarbeiter der Redaktion von SPIEGEL ONLINE und dort seit Mai 2003 Autor der Kolumne „Zwiebelfisch sowie Autor des Buches „Der Dativ ist dem Genetiv sein Tod schreibt darin hierzu:
Cogito ergo sum, ich denke, also bin ich. Diese berühmt gewordene Erkenntnis des französischen Philosophen Rene Descartes (1596-1650) ist allerdings kein Grund, jede Meinungsäußerung mit „Ich denke anzufangen. So kennt man es von den Amerikanern, für die „Well, I think. .. die natürlichste Floskel der Welt ist, mit der sie zu erkennen geben, dass sie ein persönliches „Statement abgeben. Auf Deutsch sagt man eher, was man meint oder glaubt („Ich meine,..», „Ich glaube, dass ...) oder von einer Sache hält („Ich halte das für ... „, „ich finde es richtig, dass ... „).
Es gilt nach wie vor, was der Neurobiologe Franz Mechsner in GEO 2/1997 schrieb: "Die Gedanken sind kaum jemals brave Sklaven des Willens - und das ist das Problem: Zwar können Sie Ihrem Verstand befehlen, diesen Text zu lesen. Aber auf welche Weise er das Gelesene verarbeitet, darauf haben Sie keinen Einfluß. ....... Das Denken sei ein systematisches, logisches Schließen? Tatsächlich aber ziehen wir ständig automatisierte Schlußfolgerungen, oft implizit, uns gar nicht bewußt."
Jedesmal, wenn ich die Floskel "ich denke" als Satzanfang höre, möchte ich warnen:"Bitte sprechen Sie nicht; Sie werden Ihr Denken stören. (Was häufig der Fall zu sein scheint.)
Wahrscheinlich zeigt sich hier auch der Einfluß von zu wörtlichen Übersetzungen des englischen "think" in "denken". Das englische Verb "to think" ist jedoch sowohl im Englischen als auch im Amerikanischen vorwiegend im Sinne von "glauben", "der Ansicht sein" etc. zu verstehen.
Entlarvung durch PISA
Die Ergebnisse der weltweit größten Vergleichsstudie für Schulen PISA (Programme for International Student Assessment) bescheinigen den deutschen Schulen ungenügende Leistungen. Im internationalen Vergleich haben unsere Schüler ein ziemlich beschränktes Denkvermögen. Unter 31 Ländern kamen die deutschen Schüler im Bereich Lesekompetenz auf Platz 21 und in den Bereichen Mathematik und Naturwissenschaften jeweils auf Platz 20. Die ersten Plätze belegen die Schüler aus Finnland, Japan und Korea. Es tröstet wenig, auf das nicht wesentlich bessere Abschneiden z. B. von Frankreich und den USA hinzuweisen. Der mangelhafte Ausbildungsstand in Deutschland ist auffallend.
Thomas Paulwitz, der Schriftleiter der Deutschen Sprachwelt, bezeichnete die weltweit offenkundige Bildungsblamage als "peinliches Armutszeugnis" und übersetzte PISA in "Peinliches, Indiskutables Schul-Armutszeugnis". Paulwitz weiter: "Hier schlagen sich die Folgen einer kurzsichtigen Schulpolitik nieder, die lieber nach den ständig wechselnden neuesten Moden schielt als sich um den Aufbau dauerhafter und verläßlicher Grundlagen sprachlicher Erziehung kümmert. Kaum ein europäisches Land gönne dem Schulunterricht in der Muttersprache so wenige Stunden wie die Bundesrepublik. Schulbibliotheken dürfen nicht mehr einfach zu Schulrechnerräumen umfunktioniert werden. Ganztagsschulen führten zu mehr Quantität, nicht aber unbedingt zu mehr Qualität. Immer höheren Anforderungen und Ansprüchen stehe eine sinkende Ausbildungsgüte gegenüber."
Die PISA-Forscher haben kein Abfragewissen geprüft. Gefragt war vielmehr die Fähigkeit der Schüler, Probleme zu lösen, also aus ihrem Wissen Schlüsse zu ziehen und es im Alltag anzuwenden. Dieser im Gehirn ablaufende Vorgang wird als DENKEN bezeichnet.
Wie Martin Spiewak in der ZEIT (v. 6.12.01) feststellte, schneiden skandinavische, asiatische und angelsächsische Länder deshalb soviel besser ab als die deutschen "Besserwisser", weil deren Lehrer besseren Unterricht geben. Statt den Schülern vorzukauen, was sie bis zur nächsten Klassenarbeit wissen müssen, lassen sie die Kinder und Jugendlichen selbst nach Lösungen suchen und von Mitschülern lernen. Statt Fakten versuchen sie die Schüler das Denken zu lehren. Und da die Mehrheit der deutschen Lehrer an den verkrusteten Lehrmethoden der Vergangenheit festhält, sind auch die Eltern zufrieden; so hatten sie ja selbst gelernt.
Offenbar liegt auch hier eine der Ursachen, warum immer mehr Deutsche ständig vorgeben zu denken, weil sie es nämlich nicht oder nur beschränkt können. Sie haben es einfach nicht gelernt.
"Denken"
Etymologisch betrachtet gibt es für "denken" Hinweise auf die slawische Bedeutung "wiegen" und darauf, daß das germanische Wort für "denken" ursprünglich ein "erwägen", lateinisch "tongere", den nach diesem Vorgang erreichten Zustand (wissen) bezeichnete, analog dem Wort "dünken", das ebenfalls "wiegen" bedeutete, also (unpersönlich) "mir wiegt etwas", "mir ist etwas gewichtig". Diese Begriffe "erwägen", "wiegen", "gewichten" spielen im Sinne von "bewerten" bei der Arbeitsweise des Gehirns (siehe Der freie Wille ist eine Fiktion) eine wichtige Rolle.
In 10 Jahre alten Wörterbüchern wird "denken" u. a. mit "glauben", "meinen", "sich einbilden", "annehmen", "sich vorstellen", "gesonnen sein", "beabsichtigen", "gedenken", "sich im Geiste vorstellen", "im Sinne haben", (z. B. Wahrig) gleichgesetzt. Diese Gleichsetzung erscheint teilweise überraschend und unbegründet. Denn etwas zu glauben, zu meinen, anzunehmen usw. setzt eigentlich voraus, daß ich bereits darüber nachgedacht habe. Doch das Gehirn hat mir diese Arbeit meistens schon abgenommen.
Zum richtigen Denken gehören klare Definitionen von Begriffen und deren Kombinationen nach den Regeln der Logik, so jedenfalls lautete 2000 Jahre lang die Vorstellung. Demnach wäre das Denken ein systematisches, logisches Schließen. Und wenn man die Erkenntnisse aus den letzten 10 Jahren intensiver Gehirnforschung verwertet, dann kommen die Auslegungen "geistig arbeiten", "urteilen", "überlegen", "ersinnen" (Wahrig) und das "Anwenden der menschlichen Fähigkeit des Erkennens und Urteilens" sowie "mit dem Verstand arbeiten" (Duden) der Wahrheit wesentlich näher.
Die verschiedenen Definitionen für das Verb "denken" deuten an, welche Funktionsvielfalt in dem in der Umgangssprache durch gedankenlosen Gebrauch abgewerteten Begriff "Denken" verborgen ist. Das Wort "denken" im Sinne von "Gedanken haben" kann sich nur auf den Zustand des Gehirns beziehen, der dem Sprechenden bewußt ist. Die meisten Vorgänge im Gehirn laufen jedoch unbewußt ab. Das bedeutet, wir haben keine Kenntnis davon und werden allenfalls mit dem Ergebnis der Gehirntätigkeit konfrontiert.
Der Vergleich des Datenumsatzes während der bewußten Gehirntätigkeit mit dem während der unbewußten zeigt, wie beschränkt unser Bewußtsein gegenüber den unbewußten Vorgängen im Gehirn ist. Der Thalamus, der als das Schalt- und Verteilzentrum bei der Wahrnehmung gilt und der vollautomatisch und unbewußt arbeitet, bewältigt mehrere Megabit pro Sekunde. Mit unserem Bewußtsein schaffen wird jedoch höchstens 40 Bit pro Sekunde.
Wenn "denken" und "sprechen" identische Tätigkeiten wären, dann wäre die Menschheit nicht entstanden.
Von der Floskel "ich denke" zu unterscheiden sind die Aussagen wie bedenken, nachdenken, überdenken, an etwas denken. Diese gedanklichen Tätigkeiten bedeuten, seine Aufmerksamkeit auf ein besonderes Ziel zu richten und sich damit geistig mehr oder weniger intensiv zu befassen. Und wer dabei in die falsche Richtung geraten ist, der hat sich dann wohl verdacht.
"Die Sprechblase"
Die Floskel "ich denke" gehört zum weit verbreiteten Blasendeutsch. Sie soll den mit jeder Wiederholung blasser werdenden Anschein erwecken, der "Denker" äußere Überlegtes, Durch- und Bedachtes. Oft ist es jedoch nur seichtes und belangloses Gerede. Die Enttäuschung über das vom Denker preisgegebene Ergebnis seines mehr oder weniger beschränkten Denkvermögens muß der Zuhörer ertragen.
Letzte Änderung am 28.08.2005
|