Nicole Gohlke (DIE LINKE): So wie die Klimaforscher die verschiedenen Schichten des arktischen Eises untersuchen und darin die Zusammensetzung der Luft aus verschiedenen Zeitaltern analysieren, so lassen sich auch im deutschen Wissenschaftssystem Spuren seiner jahrhundertealten Geschichte finden. Trotz vielfältiger Reformbemühungen hat das Beharrungsvermögen der Akademia doch erstaunliche Reliquien aus grauer Vorzeit konserviert. Dazu gehört etwa die Verbeamtung von Hochschullehrerinnen und -lehrern, denen Verfassungsgerichte trotz ihres ständig schrumpfenden Anteils am Gesamtsystem nach wie vor zuschreiben, alleinige Träger der Wissenschaftsfreiheit zu sein. Auch das Organisationsprinzip „Lehrstuhl samt abhängiger Schar von Assistentinnen und Assistenten, die auf befristeten Stellen
bis in ihre 50er-Lebensjahre hinein als „Nachwuchs bezeichnet werden, kann nicht als zeitgemäß gelten. Und zur historischen Überlieferung gehört auch der Status von Privatdozenten und -dozentinnen, die schon lange nicht mehr von Hörergeldern leben, oder die „Vorlesung als Lehrveranstaltungsform.
Heute befassen wir uns hier mit einem weiteren Relikt: der Eintragungsfähigkeit des Doktorgrades in gekürzter Form in die Personaldokumente. Der Doktor ist anders als landläufig angenommen kein Namensbestandteil. Niemand hat ein Recht darauf, mit diesem Qualifikationsgrad angeredet zu werden, genau so wenig wie Magistras und Magister oder Diplomierte, wie staatlich geprüfte Fachkräfte und Meister. Auch Professorinnen und Professoren haben dieses Recht nicht, denn dabei handelt es sich um eine Amtsbezeichnung. Akademische Grade und Amtsbezeichnungen sind eigentlich nur für das jeweilige Berufsumfeld von Interesse. Auch für die Eintragung in Personaldokumente sind akademische Grade nicht vorgesehen bis auf die Ausnahme des Doktors. Aber auch dabei werden nicht alle gleich behandelt. Im Ausland erworbene Grade, etwa der PhD, sind in der Regel nicht eintragungsfähig. Sucht man nach Erklärungen für das hartnäckige Überleben dieses Ausnahmeprivilegs, wird man schnell fündig. Der „Dr. ist ein Reputationsheber. Er wertet seine Trägerin, seinen Träger gesellschaftlich auf. Das schlägt sich in Karrierechancen, im Ansehen und nicht zuletzt im Gehalt nieder. Eine viel zitierte Studie der Personalberatung Kienbaum sieht ein Plus für Promovierte von mindestens 8 000 Euro gegenüber Menschen mit einem Universitätsabschluss.
Es ist vor diesem Hintergrund unverständlich, warum sich konservative Bundesländer 2007 gegen die vom damaligen Innenminister Schäuble vorgeschlagene Abschaffung der zusätzlichen rechtlichen Privilegien für Promovierte gewehrt haben und mit diesem Widerstand auch noch erfolgreich waren. Denn eine Promotion die Medizin sei hier außen vor beweist im Idealfall vor allem, dass der oder die Betreffende sich im akademischen Umfeld bewährt hat. Dazu gehört, eigenständig eine komplexe Fragestellung zu bearbeiten, die Ergebnisse darzustellen und sich idealerweise auch in der Lehre betätigt zu haben. Eine Promotion ist die Voraussetzung für die Berufungsfähigkeit auf eine Professur und damit der höchste akademische Grad.
Über Qualitäten in anderen Berufsfeldern außerhalb der Wissenschaft ist damit jedoch nichts gesagt. Über soziale Kompetenzen erst recht nichts. Wir erleben sogar den Effekt, dass in Zeiten schwacher Arbeitsmärkte für Hochschulabsolventinnen und -absolventen die Zahlen von Promovierenden ansteigen und das Verfassen einer Dissertation als Überbrückungsmaßnahme und zur eigenen Weiterbildung genutzt wird. Es gibt keinen sachlichen Grund, diesen auf den akademischen Raum zugeschnittenen Qualifikationsgrad gegenüber anderen außerakademischen Qualifizierungsgraden rechtlich zu bevorzugen. Denn die Schattenseiten der Titelhuberei auf die Qualität der zugrunde liegenden Arbeiten Titelkauf, Plagiate, Ghostwriting sind nicht zu übersehen. Um nicht falsch verstanden zu werden: Fast alle Dissertationen vermehren unser Wissen und bereichern die Debatte. Das Niveau heutiger Promotionsschriften ist im Schnitt sehr hoch. Jede wissenschaftliche Leistung ist von der Gesellschaft zu würdigen, erst recht, wenn sie unter häufig widrigen Arbeitsbedingungen zustande gekommen ist. Und der Stolz auf seinen eigenen Beitrag zum Wissensbestand sei jedem Promovierten gegönnt. Denn diese Leistung ist kein Selbstzweck. Sie dient einer Wissenschaft, die im Dialog mit der Gesellschaft steht. Dazu gehört auch der Wechsel aus anderen Berufsfeldern an die Hochschule und wieder zurück. Wir wissen, dass nicht alle Promovierenden in der Wissenschaft bleiben wollen und können. Aber gerade dieser Austausch gebietet den gegenseitigen Respekt für unterschiedlichste Qualifikationswege und eine Begegnung mit außerakademisch Qualifizierten auf Augenhöhe. Die Streichung der Eintragungsfähigkeit des Doktorgrades in Pässen und Ausweisen ist überfällig. Uns allen sollte jedoch auch bewusst sein, dass dies nur ein kleiner und eher unbedeutender Schritt ist, um die Promotion von ihrer für die wissenschaftliche Qualität nicht immer förderlichen Eigenschaft als Statussymbol zu befreien. Die Öffnung hierarchischer und geschlossener universitärer Strukturen gehört dabei zu den schwierigeren, aber notwendigen Aufgaben, um die Promotion auf ihre eigentliche Aufgabe zu fokussieren: der transparente und hochqualitative Nachweis wissenschaftlicher Kompetenz.