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Die "würde"-Seuche

Wer ständig "ich würde" sagt, verläßt die Realität

 

Die deutsche Gesellschaft hat sich in eine „würde“-Gesellschaft verwandelt. Kommt denn da niemand auf die Idee, "würde" durch "möchte" zu ersetzen?

Würden Sie das nicht auch meinen? Oder würden Sie sagen, daß Sie das noch nicht bemerkt haben. Die Leute befinden sich ständig im „würde“-Zustand, würde ich sagen.

"DIE ZEIT" 1965
Vor mehr als 40 Jahren schrieb Rene Drommert:

„In unserer Sprache, der mündlichen zumal, der Sprache der Grünen Tische, Konferenzen und Frühschoppen, hat sich die Wendung "Ich würde sagen" schon längst eingenistet. Sie besagt nicht mehr, was sie besagen sollte, nicht das Unbestimmte, Infragegestellte, das an Bedingungen Geknüpfte, nicht eigentlich den Konditionalis, wie die Grammatiker sich ausdrücken. Sie taucht auch dort auf, wo ein "Es ist so und so" oder allenfalls ein dezidiertes "Ich meine" am Platze wäre.“

Und 1976 hieß es im Ortsblatt von Bad Aibling:

„Seit wann die Würde-Seuche grassiert, ist schwer zu sagen. Feststeht vielmehr, daß bis jetzt noch niemand das Übel an der Wurzel fassen und es ausrotten konnte. Wenn ich etwas zu sagen haben würde, würde ich sagen, daß es ein richtiger Schmarrn ist mit dem würde. Ich würde meinen, es würde nicht unter der Würde sein, mit dem Würde-Unfug Schluß zu machen!“

Die „Würde-Seuche“ grassiert weiter

Hat sich seitdem im Würde-Verhalten der Deutschen etwas geändert? NEIN, im Gegenteil. Be-würde-te  Fragen und Antworten bilden mittlerweise einen wesentlichen Teil der täglichen Sprachverhunzung. Mit der Verbreitungskraft der Funkmedien wird in Gesprächsrunden mit (eventuell prominenten) Teilnehmern die Würdefloskel den Zuhörern eingehämmert, die mit der Nachahmung glauben, auf der Höhe der Sprech-Zeit zu sein. Ein auffälliges Beispiel bietet das täglich vom Bayerischen Rundfunk ausgestrahlte „Tagesgespräch“. Deren Moderatoren beginnen ihre Fragen regelmäßig mit  Wendungen wie „Was würden sie dazu sagen?“ und „Was würden sie vorschlagen?“ Und die Gefragten, ob es sich um geladene oder angerufene Fachleute oder zugeschaltete Hörer handelt, be-würde-n ihre Antwort ebenfalls und glauben damit sprachgewandt zu antworten. Mein Vorschlag, die Verben „möchten“ und „wollen“ (ich möchte/will sie fragen) zu verwenden oder die Floskel ganz wegzulassen, wird konsequent ignoriert. Ob bei Günter Jauch oder Jörg Pilava, die Kandidaten entscheiden sich nicht für eine Antwort, sie würden sich entscheiden - und tun es doch sofort.
  
Ein Blick in die Grammatik

Grammatikalisch gesehen handelt es sich bei „würde“ um den Konjunktiv II als Zeichen dafür, daß der Sprecher seine Aussage nicht als Aussage über wirkliches, über tatsächlich Existierendes verstanden wissen will, sondern als eine gedankliche Konstruktion, als eine Aussage über etwas nur Vorgestelltes, nur möglicherweise Existierendes. In diesem Sinne ist der Konjunktiv II ein Modus der Irrealität und Potenzialität; man spricht auch vom Coniunctivus irrealis bzw. Coniunctivus Potentialis (Duden Grammatik 1998).
Die in der Umgangssprache verwendeten Wendungen als Ausdruck von Höflichkeit mit in Frageform gekleideter Bitte, die die direkte Aufforderung vermeiden möchte (Würden sie das für mich tun?) oder einer vorsichtigen, unaufdringlich-zurückhaltenden Feststellung, die den Partner nicht vor den Kopf stoßen möchte (Ich würde ihnen empfehlen, ..) sind dann nicht mehr wirksam, wenn die Redewendungen mit „würde“ in beinahe jedem Satz angewendet werden.

Die ignorierte Gegenwart

Vor allem Politiker sollten bedenken, daß sie ihr Gefasel in der reinen Möglichkeitsform als Phantasten ausweist. Die Bürger erwarten klare Aussagen zur Realität und keine Spekulationen über die Zukunft, die nach ihren Erfahrungen sowieso keinen Bestand haben. Jede schwammige Aussage ebnet den Weg für Ausflucht und Ausrede.
Hinter dem Mißbrauch stehe, so Drommert (ZEIT) weiter, nicht etwa distanzierende Bescheidenheit, auch nicht lediglich die unbedachte und sprachungebildete Verwechslung zweier grammatischer Formen. Der falsch angewandte Konditionalis sei eine Sprachattrappe. Hinter ihr verstecke und winde sich der Sprechende. Ein Lauern verberge sich darin, ein zaghaftes oder ängstliches Beobachten: Ein Hintertürchen werde offengelassen. Hier, wo die Sprachattrappe als legitimes Mittel zugelassen sei, müsse zwar nicht arglistig getäuscht und gelogen werden. Aber es werde auch nicht "mit offenem Visier" gekämpft. Die Attrappe sei ein Symptom: des Zeitalters der Ängstlichkeit und Unsicherheit.

Unser sprachliches Immunsystem hat bereits von Anfang an bei der  "Würde-Seuche" versagt, wie bei den meisten nichtssagenden Floskeln der Umgangssprache. Die Sprachgesellschaft ist schon so stark infiziert, daß kaum mehr Hoffnung besteht zu gesunden.

Ulrich Werner

Zur Glosse "ich würde"

Hörerbrief an Bayern2Radio

 



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