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"nicht wirklich" gehört auf den Sprachkompost

Stellungnahme zu Unterstögers Verteidung der Sprechblase

 

Lieber Herr Unterstöger,                                                             

Ihr Beitrag zu „nicht wirklich“ im „Sprachlabor“ der SZ vom 21./22.5.2011 hat mich gefreut. Ich sah darin erneut ein Zeichen für die gelegentliche Beachtung meines Einsatzes für die deutsche Sprache. Ihre dezent formulierten Einwände geben mir aber Gelegenheit, meine MeinungS zu überdenken, zu erläutern und sogar zu erhärten. Das Ergebnis wird meinen gleichnamigen Artikel auf meiner Webseite ergänzen - wegen Krankheit und Reise leider verzögert.

Die Verantwortung der Medien
Schon von Beginn meines Netzauftritts an jagte ich keine Anglizismen, sondern die rein deutschen Missgriffe beim Gebrauch unserer Sprache. Der Bedarf an kritischen Leserbriefen, auch an die SZ, ist seit Jahrzehnten unverändert hoch. Meine Erfahrung mit den Redaktionen einiger namhafter Zeitungen und Funkhäuser spricht mehr für eine zu große Toleranz gegenüber Sprachfehlern. M. E. werden die Medien nicht ausreichend ihrer Verantwortung für die Sprache gerecht. Sie sind die kräftigsten und einflussreichsten Multiplikatoren sprachlicher Vorbilder, aber auch von Sprechblasen, Verhunzungen und Sprachblähungen. In Nr. 50 (2011) der Sprachnachrichten vom VDS schreibt Wiard Raveling,

man könne nicht vom normalen deutschen Sprachverwender erwarten, dass er, wenn er einen Ausdruck gebraucht, sich vorher tiefschürfende Gedanken macht, ob dieser Ausdruck auch angemessen ist. Otto Normalsprachverbraucher verhält sich immer imitativ und ist ein sprachlicher Mitläufer. Aber von denen, die in Sachen Sprache eine Vorbildfunktion haben (Lehrer, Politiker, Journalisten, Wissenschaftler usw.) sollte man es sehr wohl erwarten.

Der Anlass
Anlass für Ihren Artikel im Forum, fragend eingeleitet mit dem englischen Sprichwort GOING TO THE DOGS? (zu Deutsch „Vor die Hunde gehen“) war mein Ihnen zur Kenntnis gegebenes Schreiben an Dr. Dr. Rainer Erlinger vom Magazin (auf die akademische Verzierung legt er großen Wert), worin ich das besagte „nicht wirklich“ kritisiert hatte. Dieser immer öfter verwendete Begriff, ob nun als Übersetzung  von „not really“ oder als Negation von „wirklich“ eingestuft, oder einfach „in(!)“bewusst nachgeplappert, hat sich mittlerweile mit gleicher Häufigkeit im Umgangsdeutsch ausgebreitet wie andere Sprachschöpfungen (von daher, in etwa, Sinn machen). Im Tagesgespräch des Bayerischen Rundfunks, bei Günther Jauch, in einer aktuellen Notiz über Kachelmann im Internet, in einem Artikel der Gesellschaft für deutsche Sprache, dort als „Modephrase“ bezeichnet  (http://www.gfds.de/sprachberatung/fragen-und-antworten/uebersichtsseite/nicht-wirklich/) sowie in der Überschrift im SZ Magazin 30/2008 (http://sz-magazin.sueddeutsche.de/texte/liste/h/200830 "Stil ist nicht wirklich wichtig".

Irritation durch missbrauchtes “wirklich“
Schon das isoliert benutzte „wirklich“ wird häufig als überflüssige Bestärkung einer Aussage benutzt. Obwohl nicht angezweifelt wird erst dann geglaubt, wenn sie als wirklich bezeichnet worden ist. Wir sind abhängig von unbewusstem Wissen, das unser Verständnis beim Hören mehrdeutiger Begriffe wie „nicht wirklich“ beeinflusst und zur Irritation beiträgt. Oft weiß der mit „nicht wirklich“ Antwortende nicht, wie er sich ausdrücken soll; er ist sich nur sicher, kein klares „nein“  zu sagen. Der Gesprächspartner nimmt ein schwammiges „nein“ wahr und bleibt mit dem Wunsch zurück, genaueres zu erfahren. Beispiele für naheliegende Deutungen habe ich genannt. Bestätigt werden sie teilweise in Langenscheidts Millenium-Wörterbuch Englisch (2000): not really- ›eigentlich nicht‹. Auch die GfdS nennt diese Wendung, sowie „eher nicht“ und „nicht so sehr“. Hiermit wird jeweils das Gesamturteil nur eingeschränkt. 

Die nächste Antwortversion wäre dann „wirklich nicht wirklich“, mit „echt“ steigerbar  zu „echt wirklich nicht wirklich“.

Der Raum des Ungesagten
Um eine Frage ausführlicher zu beantworten, wenn also weder „ja“ noch „nein“ als Antwort ausreicht, die Frage also, wie Sie es ausdrücken, einen weiteren Raum des Ungesagten in der Antwort benötigt, dann kann der Gefragte doch gleich den Raum füllen und sagen, was sein „ja“ bzw. was sein „nein“ einschränkt, im Falle Ihres Beispiels mit dem Konzert, was ihn in Euphorie versetzt und was ihn enttäuscht hat. Die schwammige Ankündigung einer genaueren Antwort („nicht wirklich“) ist doch dann überflüssig.

Unterton – Beleidigung?
Einen abweisenden Unterton in der Variante „eigentlich nicht“ kann ich nicht erkennen. Sie deutet an, noch zwiespältig in der Beurteilung des Konzerts zu sein. Vielleicht war schon ein klares „ja“ erwogen, doch im Rückblick sind Zweifel gekommen, die das „ja“ abschwächen. Auch ein „nein“ scheint nicht ausgeschlossen. Die Einschränkung („eigentlich nicht“) deutet ergänzende Angaben an, um die Andeutung zu begründen. Die Wendung „wirklich nicht“ habe ich nicht vorgeschlagen. Sie betrifft eine andere Situation. Warum soll die Bekräftigung einer Verneinung beleidigen? Das gilt auch für das angeblich „nüchtern strenge nein/nö“. Kommt es nicht immer auf das Gesprächsklima an, ob ein Wort oder ein Begriff Empfindlichkeiten auslöst?

Der Verrottungsprozess
Den Sprachkompost, dem ich einige Begriffe und Wörter zuweisen möchte, sehe ich nicht als Chance für Spracherneuerung. Von den Objekten, die dort zur Verrottung anstehen, ist mir keines bekannt, das sich als Bereicherung („frischer Dünger“) der deutschen Sprache entpuppt hat. Vielmehr belegen meine seit über 30 Jahre auch an die SZ geschickten Leserbriefe, dass die Anhäufung mit immer wieder denselben Objekten sowohl den Wandel zum Humus als auch der Beginn der Verrottung beständig verzögert.

Die Schonzeit auf deutschen Sprachwiesen
Die Modephrase „nicht wirklich“ tummelt sich seit geraumer Zeit auf deutschen Sprachwiesen. Beliebte Sprechblasen (so zu sagen, ich sag mal, ich würde meinen, sagen, glauben, sagen wollen) leisten ihr seit vielen Jahren Gesellschaft. Vor allem die Dummdeutschfloskel (laut reclam 1993) „ich gehe davon aus“ getreu dem Motto „Wer etwas nicht weiß, der geht davon aus“ und tarnt sein Unwissen durch ein verschleiertes Glaubensbekenntnis. Zur Zeit liefert die Suche nach dem Begriff „nicht wirklich“ bei Google über 32 Millionen Treffer. Er konnte sich ungebremst von Informationen über (Un-)Sinn und Bedeutung ausbreiten. Schon beim ersten Bekanntwerden von Sprachakrobatik sollte darüber öffentlich diskutiert werden. Eine Glosse wie in ZEIT Literatur 02/2003 „Nicht wirklich wirklich - Wenn Sprache verrät, was wir gern verschweigen“, ist löblich, aber praktisch wirkungslos. Zur Würdeseuche schrieb Rene Drommert 1965 in der ZEIT „In unserer Sprache, der mündlichen zumal, der Sprache der Grünen Tische, Konferenzen und Frühschoppen, hat sich die Wendung "Ich würde sagen" schon längst eingenistet. Und 1976 hieß es im Ortsblatt von Bad Aibling:  “Seit wann die Würde-Seuche grassiert, ist schwer zu sagen. Feststeht vielmehr, daß bis jetzt noch niemand das Übel an der Wurzel fassen und es ausrotten konnte.….“ Oder wollte? (169 Mill. Google-Treffer für „Ich würde“)
Die Frage drängt sich mir auf, wie lange sollte denn die Schonzeit für „nicht wirklich“ (und Kollegen) auf den Sprachtummelwiesen jeweils dauern? 1 Monat? 1 Jahr? Jahrzehnte?

Sprachkritik braucht Geduld
Gezielte Sprachkritik ist häufig unerwünscht und bleibt unter dem Termindruck der Redakteure unbeachtet. Sprachliche Missbildungen verfestigen sich rasch, Gewohnheiten, auch sprachliche, werden ungern geändert oder abgelegt, vor allem dann, wenn sie, besonders im Umgangsdeutsch gespiegelt (nachgeplappert) werden und dadurch Richtigkeit vortäuschen.

 Die natürliche Entwicklung der Sprache
Am Einfachsten und Bequemsten ist der Hinweis auf die natürliche Entwicklung der Sprache. besonders dann, wenn es zum Aufklären und zum Bremsen der unüberlegten Wendungen und Sprechblasen längst zu spät ist. Die deutsche Sprache wird die Missbildungen ertragen. Es bleibt dem Einzelnen überlassen, sie zu meiden. Sie, Herr Unterstöger, tun ja Ihr Bestes, soweit es Ihr Auftrag zulässt. Aber gegen die Ignoranz von Kollegen und die Trägheit der Menschen schreiben auch Sie vergebens an.
 
Sprachlabor und Sprach-Eck
Mit Blick auf die Zukunft: Wer informieren könnte? Sprachvereinen und einzelnen Sprachschützern fehlt die Verbreitungsmacht und -kraft der Medien aller Art. Könnte nicht bspw. die SZ mit ihrer respektablen Auflage (zu Pfingsten über 700 000) eine Kolumne einrichten („Sprach-Eck“, "Sprachtipp“, „Sprachforum“ etc.), in der Sprachvereine und -experten abwechselnd Sprachprobleme erörtern? Natürlich nicht in Konkurrenz zum Sprachlabor, sondern als Ergänzung. Regelmäßig zu wiederholendes Stammthema darin wäre vor allem der Unterschied zwischen mehrfach und mehrmals. Die beiden unbestimmten Zahlwörter gehören trotz meines  jahrzehntelangen Bemühens um Unterscheidung immer noch nicht zum Grundwissen in den SZ-Redaktionen. Im deutschsprechenden Raum kennen 95% den Unterschied ebenfalls nicht. Glückliches Frankreich. Dort sorgt die Académie française seit 1635 für die „Vereinheitlichung und Pflege der französischen Sprache“.
 
Warnung vor dem Duden
Der Duden, die selbsternannte Instanz für die deutsche Sprache, wäre für das „Sprach-Eck“ ungeeignet. Er ist mit dem Zählen der benutzten Wörter ausgelastet, um sie nach einer bestimmten Zeit im Wörterbuch aufzunehmen. Dabei kümmert er sich nicht um die Richtigkeit des Bucheintrags. Sogar Widersprüche zu von ihm selbst dokumentierten Regeln stören ihn nicht. Das gewinnverheißende Drucken neuer Wörterbücher hat Vorrang. Der Sprachspezialist Wolf Schneider hat sogar öffentlich vor dem Duden gewarnt (bei Kerner am 25.3.2008:  „Eine widerliche Veranstaltung“. Schneider erhielt kürzlich den Henry-Nannen-Preis.

Bedenkliche Nachsicht
Ihre milde Beurteilung von „nicht wirklich“ und die „etwas gelassenere Sicht der Dinge“, die Sie empfehlen, Herr Unterstöger, scheint mir, mit Verlaub, nicht die richtige Methode für Sprachpflege zu sein.  Verharmlosen Sie nicht die Gefahr, der die deutsche Sprache fast pausenlos in den Medien und auf der Straße ausgesetzt ist? In Deutschland hat sich „nicht wirklich“ bereits im Schutz der Gleichgültigkeit im deutschen Sprachschatz festgesetzt. Einer Schonzeit bedarf es nicht mehr. Das Internet und der Alltag beweisen die vielseitige Verwendung der Sprechblase. Die Angelegenheit ist sprachlich erledigt. Das wage ich zu behaupten trotz Ihrer vorbildlichen und geschliffenen Ausdrucksweise in Streiflichtlichtern, Reportagen, Kolumnen, Artikeln, Essays und im „Sprachlabor“. Schließlich wurden Ihre Verdienste um die deutsche Sprache nicht grundlos mit dem Ben-Witter-Preis  997 und dem Ernst-Hoferichter-Preis 2010 gewürdigt. Theo Sommer schrieb aus Anlass der Verleihung des Ernst-Hoferichter-Preis 2010 (ZEIT Feuilleton vom 3.10.1997):

Hermann Unterstögers Schreiben und Treiben hat uns fasziniert: sein subtiler Witz, seine gedengelte und gewetzte Sprache, seine detailgenaue Beobachtung. Er ist ein Alltagshistoriker, ein Historiker des Alltäglichen, ein Autor, der nicht von oben herab durchs Mikroskop aufs Leben blickt, sondern es sich von unten erwandert, gleichsam zu Fuß. Auch dies erinnert an den Spaziergänger Ben Witter.

Leider ist Sommers Artikel „Ein Meister der gedengelten Sprache“ nicht im Internet lesbar. Ihr lesenswerter Artikel „Meine ungehaltene Rede“(ebenfals a. a. O. veröffentlichet) ist mit   http://www.zeit.de/1997/41/Meine_ungehaltene_Rede  abrufbar.

Hoffentlich bleiben Sie noch recht lange sprachaktiv.  

Mit freundlichen Grüßen
Ihr Ulrich Werner
München den 16.6.2011



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