Wenn die Quanten springen von Ralf Bülow. München (aus "Der Sprachdienst", 1985, H. 9/10, S 146, 147)
Ein Wort verbreitet sich: Der Quantensprung geht um. Siehe die Münchner Stadtzeitung Nr. 8/1985, wo es über einen Kabarettisten heißt: "Jockel Tschiersch hat sich als Darsteller nicht einfach nur verbessert, er hat einen wahren Quantensprung geschafft." Siehe die Zeit Nr. 20/1985, wo wir in einem Artikel zum vieldiskutierten SDI- Programm lesen: Und schließlich, dies wird den Europäern als zusätzliches Bonbon angeboten, soll die Beteiligung am Weltraum-verteidigungssystem auch einen Quantensprung für die Wissenschaft und Technik des alten Kontinents bewirken. "Siehe die Neue Zeit Nr. 6/1985 (nicht verwandt mit der alten, sondern eine Zeitung aus der New-Age-Szene) "Heute finden in allen Bereichen unserer Gesellschaft gewaltige und größtenteils unerwartete Quantensprünge statt".
Lesen wir die Zitate im Zusammenhang, so können wir die folgende Definition erschließen: Ein Quantensprung ist ein großer, in relativ kurzer Zeit stattfindender Fortschritt, der sich eher auf qualitativer denn auf quantitativer Ebene abspielt. Es handelt sich ungefähr, um das, was früher als "Durchbruch", "Meilenstein" oder "technisch-wissenschaftliche Revolution" bezeichnet wurde. Hat das Wort vielleicht etwas mit dem umgangssprachlichen Ausdruck Quanten zu tun? Heinz Küppers Illustriertem Lexikon der deutschen Umgangssprache (Stuttgart, 1984) entnehmen wir, daß das Wort ursprünglich dicke Fausthandschuhe meinte und nach 1900 auf plumpe Hände und Füße übertragen wurde; es kann außerdem "große, breite Schuhe" bedeuten. Es ist also zumindest denkbar, daß der Quantensprung, wie wir ihn gerade definiert haben, in der mensch-lichen Sphäre "fußt", belegen läßt sich diese Etymologie jedoch nicht. Vielmehr weist alles auf eine Herkunft des Wortes aus der Physik, und um sie zu klären, müssen wir den Leser ein wenig in die Wissenschaftsgeschichte entführen.
Vor dem 1. Weltkrieg begründeten Max Planck, Albert Einstein und Niels Bohr die Quantentheorie der Materie, genauer gesagt die "alte" Quantentheorie, denn etwa um 1926 wurde sie von einer neuen, verbesserten Fassung abgelöst, die auf Werner Heisenberg und andere Physiker - darunter wiederum Niels Bohr - zurückgeht. Die Grundlage der ersten Fassung bildete das Bohrsche Atommodell, das der Leser und die Leserin vielleicht aus der Physikstunde kennen. Hierbei umkreisen negativ geladene Elektronen auf ganz bestimmten Bahnen den elektrisch positiven Atomkern, der aus Protonen und Neutronen zusammengesetzt ist; das Ganze erinnert an ein winziges Planetensystem. Abhängig von der Verteilung der Elektronen auf die einzelnen Umlaufbahnen, kann das Atom in verschiedenen Energiezuständen existieren, und beim Über-gang von einem hohen zu einem niedrigeren Zustand strahlt es ein Lichtquant aus, sozusagen eine kleine Energieportion. Umgekehrt führt die Aufnahme eines Quants dazu, daß das Atom auf ein höheres Energieniveau angehoben wird. In den zwanziger Jahren nun bürgerte sich unter den Physikern für jene Übergänge die Bezeichnung Quantensprung ein. Wer sie zum ersten Mal gebrauchte, wissen wir nicht; die früheste schriftliche Erwähnung, auf die wir stießen, findet sich in einem Aufsatz von Max Born aus dem Jahre 1924 (siehe Dokumente der Naturwissenschaft, Band 2, Stuttgart, 1962, S. 33). Born benutzte den Ausdruck auch in seinen Vorlesungen über Atommechanik, die 1925 als Buch herauskamen und dort den Registereintrag "Quantensprung" aufweisen. Die sekundäre Bedeutung muß also irgendwann zwischen 1925 und 1985 aufge-kommen sein.
Wir wollen nicht ausschließen, daß dies zuerst im deutschen Sprachraum geschah. Es gibt einen frühen Beleg aus dem Jahre 1962, und zwar - ein dickes Lob dem Deutschen Fremdwörterbuch von Schulz/Basler/Kirkness et. al. (3. Bd., 1977, S. 23) für den Hinweis - in der Aufsatz-sammlung Homo Creator (Wiesbaden, 1962, S. 215) des Soziologen Wilhelm E. Mühlmann. Der Autor vergleicht dort das Entstehen einer neuen Religion auf der Basis einer älteren mit einem »historischen ) Quantensprung«. Ungleich mehr Belege finden wir allerdings im Englischen. Diverse amerikanische Lexika fuhren quantum jump mit der übertragenen Bedeutung, so etwa Webster 's Ninth New Collegiate Dictionary (Springfield, 1983): "2. an abrupt change, sudden increase, or dramatic advange - called also quantum leap." Schon vorher brachte The Barnhart Dictionary of New English Since 1963 (Bronnville, 1973) zwei Zitate mit quantum jump bzw. quantum leap in der neuen Verwendung, beide aus dem Jahr 1970. Seit kurzem kann man einen quantum leap übrigens käuflich erwerben: So nennt sich das jüngste Produkt der britischen Computerfirma Sinclair (meist abgekürzt als "Sinclair QL"). Woher kommt nun diese Beliebtheit?
Vielleicht daher, daß das englische quantum auch 'große Menge' heißt; im amerikanischen Englisch existiert es sogar als Adjektiv im Sinne von "groß" oder "bedeutend" (belegt seit 1942, siehe den Webster sowie The Second Banhart Dictionary of New English, Bronxville, 1980). Ein quantum jump läßt sich also ganz wörtlich als "großer Sprung" deuten. Dazu kommt dann die Beziehung zu einer geheimnisvollen wissenschaftlichen Theorie, was den Reiz der Bezeichnung sicher nicht kleiner macht. Damit schließt sich der Kreis: Zur möglichen deutschen Überlieferung tritt die Rückübersetzung aus dem Englischen, und ein neues Modewort ist geboren. Wir sollten jedoch nicht übersehen, daß der Quantensprung bei uns wieder in seiner nackten physikalischen Gestalt erscheint, und diese läßt sich durch noch so viele Nebenbedeutungen nicht verhüllen. Es hört sich schon merkwürdig an, wenn ein Mensch aus Fleisch und Blut mit einem Ausdruck beschrieben wird, der dem Reich der Elektronen und Atome entstammt, aber vielleicht paßt dieser um so besser in unsere merkwürdige Welt voller Elektronengehirne und Atomsprengköpfe.
2) Die "neue" Quantentheorie von Heisenberg et. al. definiert den Quantensprung ohne Bezug auf das Bohrsche Atommodell. Für Fachleute sei angemerkt, daß Werner Heisenberg in den fünfziger Jahren eine weitere Definition (?) einführte, nämlich als "Kollaps der Wellenfunktion beim Doppelspaltversuch". Dieser Quantensprungbegriff tauchte später dann im New-Age-Physikbuch Die tanzenden Wu li Meister des Amerikaners Gary Zukav auf (Reinbek, 1985, S.95).
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